Buch der Woche: Vom elitären Stammler zum Plothuber

„Mir scheint ein großes Problem unserer Gegenwart zu sein, dass man mit so viel Sachen konfrontiert wird, mit so viel Menschen, und nicht nachkommt, wie wir es vielleicht eigentlich möchten, wirklich anteilnehmend diesen zum Teil auch Katastrophen gegenüberzustehen“, erklärte kürzlich die Schriftstellerin Brigitte Kronauer in einem Interview.

Mit unendlich vielen Menschen, kleinen und großen Katastrophen, herzzerreißenden Anekdoten und vordergründig banalen Alltagsbegebenheiten konfrontiert die Georg-Büchner-Preisträgerin die Leser in ihrem neuen opulenten Roman. Die inzwischen 73-jährige Brigitte Kronauer, die seit vielen Jahren in Hamburg lebt und dieser Stadt und ihrem Umfeld im Roman "Teufelsbrück" (2000) ein eindrucksvolles literarisches Denkmal gesetzt hat, arbeitet wie mit einem literarischen Weitwinkel - ganz nah heran ans Geschehen und mit viel Tiefenschärfe ein breites Spektrum ablichten. Jede auf den ersten Blick nebensächlich erscheinende Veränderung in den Figurenkonstellationen, jede noch so winzige Regung in der Natur wird mit großer Präzision registriert.

Therapeutin im Mittelpunkt
Im Mittelpunkt des Romans steht die "Krankentherapeutin" Elsa Grundlach. Sie hält die Fäden zusammen und fungiert als eine Art Bindeglied im gigantischen Figurenensemble. Die Handlung besteht aus drei Teilen. Zu Beginn begegnen wir Elsas Kunden (oder besser: Patienten), die sich der magischen Hände der rothaarigen Frau anvertrauen. Halb Engel, halb Hexe wirkt die Therapeutin Elsa wie ein zauberndes Wesen aus einem modernen Märchen. Den umfangreichen Mittelteil bestreiten Elsa und Luise Wäns auf ihren ausgedehnten Spaziergängen. Luise Wäns hat die Siebzig überschritten und ist „die Mutter der mürrischen Bankbeamtin Sabine“, mit der sie um die Gunst der Männer konkurriert. Auf den Spaziergängen durch die Natur wird aus einer Art doppelten Beobachterposition Hans Scheffer, ein in Ehren ergrauter Casanova, in die Handlung integriert. Scheffer ist engagierter Hüter eines Naturschutzgebietes und unumstrittener Mittelpunkt eines skurrilen Freundeskreises, der sich regelmäßig bei Luise Wäns trifft.

Der Tratsch hat Stil
Daraus entsteht dann der berühmt-berüchtigte Beziehungstratsch, ein für Brigitte Kronauer völlig ungewohntes Sujet, dem sie sich aber offensichtlich mit großer Begeisterung hingibt. In ihrer Figuren- und Beziehungscollage wirkt alles ein wenig altmodisch, es werden noch Briefe geschrieben, bei Kronauer gibt es (beinahe selbstverständlich) immer wieder Anspielungen auf die Literaturgeschichte, malerische Naturbeschreibungen, hier wird unendlich viel geredet, der Tratsch hat Stil, und selbst die niederträchtigste Lästerei geschieht immer mit einer gewissen Contenance.
Das Gros der Figuren scheint im tiefsten Innern mit sich und der Welt zu hadern: „Jeden Morgen, sagt sich die Krankentherapeutin Elsa, masert, mustert, zerstückelt mich die verfluchte Zeitung und will für den Resttag mich und meine Patienten erledigen.“
Ob der Pfarrer Dillenburg, der Hundeliebhaber Brück, dessen geliebter Hund Rex das Zeitliche segnet, der Wanderer Wind, der Komponist Keller oder die mannstolle Katja – sie alle scheinen sich permanent zu verstellen, sich selbst zu verleugnen, um anderen zu gefallen. So lässt Kronauer die Therapeutin Gundlach über Luise Wäns befinden: "Sie benutzt dauernd die Wörter 'entzückend' und ' reizend', wenn sie über Menschen spricht. Ich habe das Gefühl, sie würde viel lieber 'Scheusal' und 'Ungeheuer' sagen. Vielleicht möchte sie sich vorstellen, sie wäre ein guter statt ein boshafter Mensch?"

Humorvoll wie noch nie
Aus dem gewaltigen Figurengewimmel, mit dem der Roman schließt, ragen immer wieder solch scharfsinnige Sätze heraus, die dem vermeintlich oberflächlichen Gewäsch dann doch die sezierende kronauer-typische Tiefe verleihen. Neid, Eifersucht, Lügen – die ganze Bandbreite der kleinen menschlichen Schwächen wird in diesem polyphonen Soziogramm mit großer Verve entlarvt. Und wenn Brigitte Kronauer über den erfolgreichen Schriftsteller Pratz, eine ihre Nebenfiguren, befindet, dass er sich vom „elitären Stammler zum Plothuber“ gewandelt habe, dann darf man dahinter auch ein ironisches, mit einem Augenzwinkern versehenes Selbstbekenntnis vermuten. So humorvoll und unangestrengt wie in ihrem neuen Roman war Brigitte Kronauer nämlich noch nie zuvor.

Brigitte Kronauer: Gewäsch und Gewimmel. Roman. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2013, 612 Seiten, 26,95 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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