Buch der Woche: Tödliche Unterschriften

Per Leos faszinierender Debütroman “Flut und Boden“

“Er hat Unterschriften geleistet, die unmittelbar tödlich waren. Das ist entsetzlich, aber es ist nicht das Handwerk eines Metzgers. Er hat an keinen Gemetzeln und keinen unmittelbaren Morden teilgenommen, das macht es aber nicht besser“, erklärte der Schriftsteller Per Leo kürzlich in einem Interview über seinen Großvater Friedrich, einst Abteilungsleiter im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS.

Das Handlungsschema wirkt literarisch durchaus vertraut. Der Enkel kramt im familiären Nachlass und stößt in Bücherstapeln auf bedrückende Fundstücke, die die NS-Verstrickung seines Großvaters zweifelsfrei dokumentieren. Und doch schafft es der literarische Debütant Per Leo, ein 42-jähriger promovierter Historiker, ganz singuläre Akzente zu setzen. Historiker und Schriftsteller marschieren in diesem Roman im Gleichschritt, heraus gesprungen ist dabei ein historischer Essay, ein opulentes biografisches Puzzle ohne dokumentarischen Anspruch, das den Zeitraum von der Weimarer Republik bis in die Gegenwart umfasst.
Der Enkel, ein junger Geschichtsstudent, hinter dem sich nur mäßig getarnt Autor Per Leo verbirgt, bummelt in den frühen 1990er Jahren ziemlich motivationslos durch den universitären Alltag. Er ist körperlich und geistig ausgebrannt, erleidet schließlich einen Nervenzusammenbruch und wendet sich an den psychosozialen Notdienst des Studentenwerks Freiburg. Erst beim zweiten Anlauf wird dem jungen Mann geholfen, nachdem er darüber berichtet, dass sein Großvater „ein lupenreiner Nazi gewesen“ sei. Diese Offenbarung wirkt wie ein Türöffner zur gewünschten Hilfe. Die biografische Last eines Nazi-Vorfahren wird unverzüglich als krisenauslösendes Trauma anerkannt. Eine zweite Klammer zur Gegenwart wird durch ein historisches Seminar gesetzt, dass ein Holocaust-Experte unter dem Thema "Nationalsozialistische Vernichtungspolitik während des Zweiten Weltkriegs" an der Freiburger Uni abhält.

Rekonstruierte Familiengeschichte
Per Leo rekonstruiert in seinem in diesem Frühjahr für die Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse nominierten Roman rückwärtsgewandt die Geschichte seiner Familie, eines angesehenen bürgerlich-protestantischen Hauses in Bremen, in dem einst die Goethe-Lektüre so selbstverständlich war wie der Morgenkaffee. Daraus entwickelt sich als Kardinalfrage des Romans: Wie konnte sich ein Spross dieser Familie zu einem führenden NS-Rassentheoretiker entwickeln? Der aufsässige Großvater Friedrich brach die Schule ab, der Nationalsozialismus bot dem Freiluft- und Bewegungsfanatiker (mit Pfadfinderidealen) die letzte Karrierechance. Sein Bruder Martin, eine feinsinnige Künstlernatur, flüchtet hingegen in eine geradezu religiös ausgelebte Anthroposophie. Aufgrund seiner Morbus- Bechterew-Erkrankung wurde er im Frühjahr 1938 von den Nazis zwangssterilisiert. Größer, schlimmer, furchtbarer kann kein Riss sein, der durch eine Familie geht.
„Das Verstörende ist auch, dass die Art von Rassismus, die mein Großvater verkörpert hat, zwei Seiten hat: Das eigene Kollektiv stark zu machen und auf der anderen Seite eigentlich alles, was nicht dem eigenen Kollektiv zugehört, zunächst sich selbst zu überlassen aber unter Bedingungen eines Weltkriegs ist das eben Völkermord“, hatte Per Leo in einem Interview erklärt.

Nähe und Distanz
Dieses Buch lebt vom Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz, vom exzellent bewältigten Spagat zwischen Schriftsteller und Historiker. Per Leos beinahe heimeligen Sequenzen über das Leben im großbürgerlichen Idyll (das Turmzimmer in Vegesack mit der schönen Aussicht auf die Weser) stehen die brillanten, messerscharfen Analysen des Historikers gegenüber.
Trotz seiner deutlichen Positionierung gegen den Wahn seines Großvaters vermeidet es Per Leo, einen radikalen Rundumschlag anzusetzen, mit Bausch und Bogen zu verdammen und sich von der Empore des Nachgeborenen mit großer moralischer Entrüstung von seinen Vorfahren zu distanzieren. Er hat die Finger in Wunden gelegt, die noch nicht vernarbt sind – ganz nach Henrik Ibsens Motto: Zu fragen sind wir da, nicht zu antworten. So bleiben wir als Leser einigermaßen ratlos, aber innerlich völlig aufgewühlt ob der unterschiedlichen Lebensläufe von Friedrich und Martin zurück. Auch dafür müssen wir dem Autor Per Leo dankbar sein. „Flut und Boden“ ist ein beeindruckendes Meisterwerk eines Debütanten.

Per Leo: Flut und Boden. Roman. Klett Cotta Verlag, Stuttgart 2014, 347 Seiten, 21,95 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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