Buch der Woche: Schwermütige Schlafforscherin

Mit ihrem Romandebüt „Der Geschmack von Apfelkernen“ ist der in Hamburg lebenden Schriftstellerin und promovierten Literaturwissenschaftlerin Katharina Hagena vor vier Jahren ein geradezu sensationeller Erfolg gelungen. Weit mehr als eine Million Mal hat sich der in 20 Sprachen übersetzte Erstling der 45-jährigen Autorin verkauft, und in diesem Jahr haben die Dreharbeiten für die Verfilmung (u.a. mit Matthias Habich, Marie Bäumer und Meret Becker) begonnen. Umso gespannter war man nun auf das zweite Erzählwerk.

Wieder geht es um Vergessen, Verdrängen und (beinahe selbstverständlich) um Liebe und verletzte Gefühle. Wie schon im so überaus erfolgreichen Erstling steht eine Familie im Mittelpunkt, und erneut wird die Geschichte aus der Perspektive von Frauen erzählt. Erinnerungen, Schlaflosigkeit, Familiengeheimnisse und das krankheitsbedingte Versagen der Erinnerungen prägen das Gros der Handlung, in deren Mittelpunkt die 37-jährige Schlafforscherin Ellen Feld steht.
Katharina Hagenas Protagonistin hat selbst mit Schlafproblemen zu kämpfen. Mit ihrer 17-jährigen Tochter Orla ist die aus dem fiktiven nordbadischen Provinzstädtchen Grund stammende Ellen - nach einem mehrjährigen Dublin-Intermezzo - in Hamburg gelandet.
Dort glaubt sie, ihren Jugendfreund Andreas, einen Postboten aus Grund, gesehen zu haben. Diese Begegnung löst bei Ellen einen kaum zu bändigenden Erinnerungsschwall aus. „Gleich werde ich nicht nur hellwach, sondern auch noch schwermütig sein“, sinniert die Hauptfigur, die auf mysteriöse Weise mit der zweiten Erzählerin Marthe Gries verbunden ist. Eine alte Dame, deren Sohn Lutz vor vielen Jahren verschwunden ist und der Ellens erster Freund war.
Autorin Katharina Hagena springt auf den Zeitebenen leger hin und her, und in einer durchwachten Nacht lässt sie Ellen Jugend und Kindheit reflektieren. Auch ihr zweiter Roman ist hervorragend durchkomponiert, sprachlich ausgefeilt und mit originellen Metaphern durchzogen. So tauchen immer wieder Spinnen auf - eine Anspielung auf das Erinnerungsnetz, in dem die Personen gefangen sind. Auch der Renaissance-Chor, den Ellens Vater leitet und der ständig das Lied „Come heavy sleep“ von John Dowland probt, fungiert als Symbol, als unübersehbarer Fingerzeig in die Vergangenheit. Der erste Satz des Romans („Alles ist voller Zeichen.“) gewinnt so im Nachhinein leitmotivischen Charakter.

Klage auf hohem Niveau

Nach der Lektüre ist man von der beinahe geometrischen Perfektion, von der fantasiereichen Symbolik und der handwerklichen Souveränität tief beeindruckt, und doch bleibt ein nebulöses Gefühl der Künstlichkeit zurück. Man fragt sich beinahe verzweifelt: Hat dieses Buch einen eigenen Atem, hat es Temperament? Oder ist es steril, wie in einem Vakuum entstanden, das Resultat einer hochbegabten und hochgebildeten Autorin, die ihre eigene Messlatte in schwindelerregender Höhe positioniert hat und nun partout alle Register ihres Könnens für den Zweitling gezogen hat? Katharina Hagena lässt uns auf verdammt hohem Niveau klagen.

Katharina Hagena: Vom Schlafen und Verschwinden. Roman. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2012, 282 Seiten, 18,99 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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