Buch der Woche: Rot oder schwarz?
"In Wirklichkeit ist Schreiben eine Form des Wartens. Solange ich dies schreibe, ist nichts zu Ende, kann es eine Wiederholung geben," lässt Autorin Julia Schoch ihre weibliche Hauptfigur erklären. Die Protagonistin ähnelt - wie schon in den Vorgängerwerken - ganz stark ihrer geistigen Schöpferin, ist in einem Ostseeort aufgewachsen, hat einst an der Uni gearbeitet (Schoch selbst war von 2000 bis 2003 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Potsdam und hat über Michel Houellebecq promoviert) und lebt in der Stadt P. Potsdam wird nicht explizit genannt, und auch die Hauptfiguren bleiben bei Julia Schoch namenlos.
Neben der jungen Schriftstellerin taucht ein Historiker auf, der in den Vorwendezeiten in der Sowjet-Union an einem gigantischen Erdgasprojekt mitgearbeitet hat und heute am "Institut für Zeitgeschehen und Gegenwart" beschäftigt ist. Wir erfahren, dass der Mann "herrliche Schlüsselbeine" hat (wie muss man sich die wohl vorstellen?) und wegen einer Gipsfigur in seiner Wohnung den Kosenamen "Bonaparte" verpasst bekam.
Dieses seltsame Paar verbindet die gemeinsame Leidenschaft fürs Roulette, am Rande einer Historikerkonferenz gewinnen sie eine stattliche Summe, und fortan zieht es sie immer wieder in Kasinos. Am Ende hat die junge Frau exakt 688 Kasinoeintrittskarten gesammelt.
Bei diesen Besuchen ist nicht die minimale Gewinnchance die Antriebsfeder, sondern die Kasinos fungieren bei Julia Schoch als große Metapher, als Fluchtpunkt, als "samtene Abpolsterungen gegen das Draußen", als Ort, der vom Wandel der Zeit nahezu verschont geblieben ist. So stehen die Kasinos irgendwo auch als Symbol für die westliche Freiheit, verbunden mit dem Reiz des Ungewissen und der Erwartung auf etwas Nichtplanbares. Um genau diese (durchaus fragwürdige) Form der Freiheit fühlt sich die Ich-Erzählerin durch ihre Kindheit in der DDR betrogen. Der politisch-gesellschaftliche Wandel und dessen prägende Einflüsse auf das Individuum stehen wie schon in Schochs Vorgängerwerken wieder im Mittelpunkt. Die Stadt P. fungiert als Nahtstelle zwischen DDR und Bundesrepublik, zwischen Historie und Moderne, zwischen prachtvollen Schlössern und abstoßenden Plattenbauten. Und die Veränderungen machten nicht einmal vor den Straßennamen halt, die auch ein Stück Identität verkörpern. Man ahnt es schnell, dass auch die seltsame Beziehung zwischen der Ich-Erzählerin und Bonparte nur ein flüchtiges Intermezzo in der schnelllebigen Gegenwart ist.
Als Bonaparte die Protagonistin in Richtung Amerika verlässt, geht die junge Frau noch einige Male allein an den Roulettetisch, doch der mentale Kick, ja das beinahe erotische Flair des Kasinobesuchs will sich nicht mehr einstellen. "Alles Wesentliche ist schon passiert, das Ende des Zeitstrahls erreicht," klagt die Ich-Erzählerin, als sie schlussendlich nach Venedig flüchtet.
Das klingt ziemlich melancholisch und auch etwas schulmeisterlich, doch die 38-jährige Julia Schoch beherrscht ihr Handwerk. Abgeklärt und sprachlich routiniert hat sie diesen leicht nostalgischen Sound, diese elegische Hintergrundmusik schon als ihr Markenzeichen etabliert. Am Ende dieses "Selbstporträts mit Bonaparte" weiß man als Leser auch, dass man sich in einem einzigen großen Schochschen Erzählzyklus bewegt und denkt sogleich an den Eröffnungssatz aus dem Vorgängerroman "Mit der Geschwindigkeit des Sommers" (2008) zurück: "Was weiß diese Zeit von einer anderen."
Julia Schoch: Selbstporträt mit Bonaparte. Roman. Piper Verlag, München 2012, 142 Seiten, 16,99 Euro.
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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