Buch der Woche: Neues Gesicht, neues Leben?
Der Schweizer Autor Peter Stamm, der im Januar seinen 50. Geburtstag feierte, hat sich vor einigen Wochen bitterlich darüber beklagt, dass er im Ausland (vor allem im englischsprachigen) viel größere Aufmerksamkeit findet als daheim. Das trifft zwar zu, ist aber dennoch eine Klage auf ganz hohem Niveau, denn die Bücher des in Winterthur lebenden Autors erfreuen sich auch im deutschsprachigem Literaturbetrieb seit Jahren großer Beliebtheit. Zuletzt hatte er 2009 den Roman „Sieben Jahre“ und zwei Jahre später die Erzählungen „Seerücken“ vorgelegt – immer dabei den Blick auf die kleinen und großen Lebenskrisen gerichtet. Stamm setzt nie auf die großen äußeren Effekte, sondern das Brodeln im Innern, das sich zu einem emotionalen Vulkan auswachsen kann.
Nur auf den ersten Blick weicht er in seinem nun erschienenen sechsten Roman von diesem Konzept ab. Der Einstieg ist eigentlich stamm-untypisch, denn wir werden (in der Retrospektive) Zeugen eines tragischen Unfalls. Die erfolgreiche TV-Moderation Gillian, eine äußerst attraktive Frau von Ende Dreißig, erwacht im Krankenhaus – und nichts ist mehr wie zuvor. Nach einer im Streit mit ihrem Mann, einem mitelmäßigen Journalisten, durchzechten Silvesternacht kommt es zu einem tragischen Verkehrsunfall, den der Ehemann nicht überlebt.
Das Leben eine Inszenierung
Zum folgenschweren Disput war es gekommen, weil jener Matthias Nacktfotos seiner Frau gefunden hatte, die ein Künstler angefertigt hatte, um sie später als Vorlage für ein kunstvolles Aktgemälde zu verwenden.
Gilian ist nach dem Unfall nicht mehr sie selbst, ihr Gesicht ist entstellt, die Nase total deformiert. Die behandelnden Ärzte säen mit dem Hinweis auf die plastische Chirurgie Hoffnungen. In Rückblenden erzählt die einstige TV-Berühmtheit von der Zeit vor dem Unfall, von allerlei Luxus, den sie schon in jungen Jahren genoss, von einem Leben das was man wohl „gut situiert“ nennt. Doch mit der Zerstörung ihres äußeren Erscheinungsbildes setzt in der Zeit des Hospital-Aufenthalts ein Prozess der Selbstbesinnung ein und Gillian empfindet ihr bisheriges Leben als „eine einzige Inszenierung“. Sie fühlt sich in ihrer Rolle als TV-Frau nur begafft, aber nicht wirklich als Mensch gesehen. „Gillian hatte immer gewusst, dass sie in Gefahr war, dass sie irgendwann bezahlen musste für alles. Jetzt hatte sie bezahlt. Ihr Job, ihre Eltern, Matthias gehörten zu einem anderen Leben. Es ist alles noch da, sagte sie, nur ich bin weg“, resümiert sie und versucht als Jill später einen Neuanfang in einem Wellness-Hotel im Engadin, als Mischung aus Animateurin, Entertainerin und folkloristischer Komödiantin.
Genau an jenem Ort kommt es zum Wiedersehen mit dem Künstler Hubert Amrhein, den sie einmal in ihrer Fernsehsendung interviewt hat und der der Urheber der Nacktfotos ist. Amrhein schlüpft im zweiten Teil des Romans in die Hauptrolle. Auch er ist ein Suchender, eine Person, die ebenso wie Gillian (Jill) am Scheideweg steht, die sich selbst neu erfinden will. Von seiner Frau Astrid, einer vernarrten Esoterikerin war er verlassen worden, auf kreative Impulse für seine künstlerische Arbeit wartet er schon lange vergeblich. Auch sein Lebensweg scheint in eine Sackgasse zu führen.
Im Leben beider Hauptfiguren dreht sich vieles um Normen, Regeln, Fremd-Determination durch Rollenzwänge und eigene hochgesteckte Erwartungen. Bleibt da überhaupt noch Freiraum zur Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit? Und wieviel Neuanfang steckt in jedem schmerzlichen Verlust? Können wir Teile unserer Biografie einfach abstreifen oder bleiben wir Gefangene der vorangegangenen Ereignisse? Peter Stamm wirft auch in „Nacht ist der Tag“ wieder latent Fragen auf, die radikal an die Wurzeln menschlichen Dasein gehen.
Spagat zwischen Banalität und Tiefsinn
Seine wohldosierte Mischung aus Leichtigkeit und Schwere, aus scheinbar banalen Alltagsbegebenheiten und tiefen existenziellen Problemen, macht den Reiz dieser kunstvoll-simplen Prosa aus - dieser unaufgeregte Tonfall, der trotzdem höchste Erregung erzeugt. Es ist ein kunstvoll-akrobatischer Spagat zwischen Banalität und Tiefsinn (den beiden Polen zwischen denen sich auch unser Leben bewegt), der Peter Stamm immer wieder bravourös gelingt und der zu einer Art Gütesiegel geworden ist. Der letzte Satz klingt zwar ein wenig nach Happy-End, entlässt aber Leser und Figuren gleichermaßen in ein emotionales Vakuum: „Das Spiel war zu Ende, sie war frei und konnte gehen, wohin sie wollte.“ Peter Stamm hat wieder einmal eine grandiose Achterbahnfahrt der Gefühle inszeniert, eine absolut singuläre Stimme in der deutschsprachigen Literatur.
Peter Stamm: Nacht ist der Tag. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2013, 253 Seiten, 19,99 Euro
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.