BUCH DER WOCHE: Krähen und dunkle Schatten
In den fünf neuen Novellen von Hartmut Lange geht es noch etwas unheimlicher, geheimnisvoller und absurder zu als bei ihm ohnehin schon üblich. Krähenschwärme ziehen wiederholt ihre Kreise über den Berliner Südwesten, wo alle Texte in der Dorotheenstraße rund um Kohlhasenbrück angesiedelt sind, und dunkle Schatten lösen kaum zu beschreibende Ängste aus.
Wir begegnen Figuren, die zunächst wie ganz gewöhnliche Zeitgenossen ihren Alltag verrichten - ein Taxifahrer, der zuvor als Architekt tätig war; ein engagierter Bürgermeister und zwei gut situierte Ehepaare, lediglich einer Cellospielerin haften leicht märchenhafte Züge an.
Und irgendwann passiert es dann, die für Hartmut Lange typischen und selten erklärbaren „Ausbrüche“ führen zu gravierenden Zäsuren in den Lebenswegen und münden oft in skurril anmutendes Verhalten.
Der Taxifahrer Denninghoff, der plötzlich seine Frau verloren hat, verbindet all seine Erinnerungen an die Verstorbene mit einem materiell wertlosen Poster des Gemäldes „Straße in Paris“, das er noch in der einstigen gemeinsamen Wohnung vermutet, die inzwischen ein Scheidungsanwalt bewohnt. Denninghoff, der von der „Freiheit zum Hierhin und Dorthin“ träumt, verschafft sich einige Male mit einem noch vorhandenen Schlüssel Zutritt zur Wohnung, findet aber das Poster nicht. Er beschließt darauf, nach Paris zu reisen und sich das Original anzusehen. Erfolglos, denn das „Erinnerungsbild“ hängt inzwischen in einem Museum in Chicago. Wenige Tage später wird Denninghoffs Taxi am Teltowkanal gefunden, vom Fahrer keine Spur. Ein offenes Ende, die Figur verschwindet, wie einst der „Wattwanderer“ Völlenklee und viele andere Lange-Protagonisten. Das Abtauchen als ultima ratio hat System. Nicht anders beim Hotelberater Trautwein, der offensichtlich seinen Job verloren hat und seiner Familie den normalen, geregelten Alltag mit vielen Geschäftsreisen vortäuscht, aber von Bekannten häufig in der Nachbarschaft gesehen wird. Seine Frau Steffi trifft abends stets auf einen Schatten, der für sie als Ersatz für den verlorenen Partner fungiert.
Auch beim Ehepaar Klausen ist die Welt aus den Fugen geraten. Gottfried ist als Auslandskorrespondent in London und will seine Frau Xenia, die in Berlin zurückgeblieben ist, in die britische Hauptstadt nachholen. Dann fährt Autor Hartmut Lange ein Gemisch aus Misstrauen, Eifersucht und Zufällen auf. Zunächst verpasst sich das Paar am Telefon, dann platzt ein Termin am Flughafen, schließlich meldet sich an Xenias Apparat eine Männerstimme. Klausen will zurückfliegen nach Berlin, doch der Vulkanausbruch in Island verhindert dies. Er lässt beruflich stark nach, denkt an die „Othello“-Inszenierung, die er in London gesehen hat und zieht (schwermütig bis in die Haarspitzen) Parallelen zum eigenen Leben.
Immer wieder ereignen sich geheimnisvolle Dinge, oft sind es vermeintliche Alltagsbanalitäten, die die Figuren aus der Bahn werfen und in ein Gedankenchaos tauchen. Wie fremd-determiniert streunt das Lange-Personal hilflos durch den Alltag; das Unterbewusstsein diktiert das Handeln. So auch der Bürgermeister Schmittke, die skurrilste Figur im von Hartmut Lange inszenierten Ensemble der Sonderlinge. Er fühlt sich allenthalben von einer Krähe verfolgt, wähnt sie auf dem Rücksitz seines Autos und gibt vor, sie in seinem Dienstzimmer gesehen zu haben. Eine Sinnestäuschung? Handfester Verfolgungswahn? Hartmut Lange löst diese Rätsel nie auf, sondern lässt den Leser nach jeder der fünf Novellen dieses Bandes in einem Gefühl der inneren Zerrissenheit, der totalen Verunsicherung und Ratlosigkeit zurück. Der inzwischen 76-jährige Berliner Autor, der uns seit mehr als dreißig Jahren auf konstant hohem Niveau mit seinen schmalen, sprachlich fein ziselierten, bisweilen leicht verstörenden Büchlein bedient, hat sich hier wieder einmal als ungekrönter zeitgenössischer König der klassischen Novellenkunst präsentiert.
„Es ist die Kunst, die es uns ermöglicht, die Grenze vom Leben zum Tode niederzureißen“, heißt es - durchaus sinnstiftend für den gesamten Band - in der Novelle „Die Cellistin“. Grenzerkundungen und Grenzüberschreitungen stehen fast immer bei Hartmut Lange im Mittelpunkt. Er hat uns noch einmal ein großes Alterswerk vorgelegt, dessen Texte sich so lesen, als hätten sich Beckett, Poe und Heidegger nach durchzechter Nacht gegenseitig ihre Albträume erzählt. Einfach nur großartig.
Hartmut Lange: Das Haus in der Dorotheenstraße. Novellen. Diogenes Verlag, Zürich 2013, 125 Seiten, 19,90 Euro
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Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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