Buch der Woche: Ein schweres Beben - Roman über das Gladbecker Geiseldrama
Die Kardinalfrage gleich vorweg: Kann man über ein bewegendes zeitgeschichtliches Ereignis wie das Geiseldrama von Gladbeck einen Roman schreiben? Der erfahrene Journalist und versierte Schriftsteller Peter Henning hat sich dieser Herausforderung jedenfalls gestellt.
Seinen Vorgängerroman hatte er als „Verbeugung“ vor seinem großen Vorbild Jonathan Franzen „Leichtes Beben“ genannt. Nun hat es der 54-jährige Peter Henning selbst mit einem „schweren Beben“ (einer von Franzens Erfolgstiteln) zu tun.
Vier Jahre hat Henning recherchiert, hat Archive durchstöbert, alte Fernsehbilder studiert und Zeugen über das nun 25 Jahre zurück liegende Geiseldrama befragt. Exakt am 16. August waren Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner in eine Bank im Gladbecker Stadtteil Rentfort eingedrungen, hatten Geiseln genommen und traten vom nördlichen Ruhrgebiet aus eine Odyssee an – über die Niederlande, nach Bremen, zurück nach Köln, ehe südlich der Domstadt auf der Autobahn nach 54 Stunden das Drama zu Ende ging. Zwei Geiseln und ein Polizist kamen dabei ums Leben. Erschütternd noch immer – vor allem im Wissen darum, dass es das Resultat einer Verkettung von Pleiten, Pech und Pannen bei der Polizeiarbeit war. Mindestens genauso bestürzend war allerdings das Verhalten der Medien während des 54-stündigen Horrors zwischen Hoffen und Bangen. Eine Autokolonne mit Journalisten saß den Geiselnehmern stets im Nacken und erschwerte die Arbeit der Ermittler zusätzlich. Die damals gerade gestarteten privaten TV-Sender hatten den etablierten Formaten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen den Kampf angesagt. Der Gipfel der Geschmacklosigkeit war das Live-Interview, das einer der Entführer (mit Schusswaffe in der Hand und von einer großen Menschenmenge bestaunt) unweit des Kölner Doms gab.
Peter Henning hält sich in seinem opulenten Erzählwerk nicht nur an die gesicherten Fakten. Er hat rund um das Geiseldrama viele fiktive Figuren angesiedelt, die er auf unterschiedliche Weise mit dem Verbrechen in Verbindung bringt. Da ist der polnische Fahrer des in Bremen gekaperten Busses, der Fotograf, der zum Vermittler zwischen Polizei und Geiselnehmer wird; die verwitwete Trivialschriftstellerin, die durch das Drama lernt, mit dem gegen sie gerichteten Vorwurf der „Realitätsflucht“ umzugehen; der Agenturfotograf, der im Bus die Kidnapper fotografiert und nach der Erschießung des italienischen Jungen auf dem Rastplatz Grundbergsee seine Kamera im Bus vergisst; die skrupellosen Boulevardreporter; der SEK-Beamte Kirchner, dem Henning vernichtende Urteile über das Verhalten der Einsatzleitung in den Mund legt; und nicht zuletzt der Teenager Marc Steiner (lebt wie der Autor damals selbst in Hanau), der gebannt vor dem Fernseher hockt und nebenbei seinen dementen Großvater versorgt.
Als Leser fühlt man sich ein wenig wie bei einer Karussellfahrt. Man rast mit großer Geschwindigkeit und dadurch auch mit wechselnden Blickwinkeln immer im Kreis (um den Handlungskern der Entführung) herum und droht angesichts des gigantischen Figurenensembles die Orientierung zu verlieren. Es gibt zu viele ausufernde Handlungsstränge, die von Henning bisweilen ziemlich gewaltsam miteinander verknotet werden. Dabei kommt der Autor (wie man im Westfälischen zu sagen pflegt) von „Hölzken auf Stöcksken.“ Das heißt: Er schweift unendlich ab. Ein Zeltplatz in Zandvoort, die polnische Linke, der demente Großvater und Storms „Schimmelreiter“ – die verbindende Klammer lässt sich nicht immer finden. In erster Linie fehlt es aber, und das ist Hennings Kunstgriff der ständig wechselnden Perspektiven geschuldet, an der präzisen Fokussierung auf wenige Figuren.
In „Ein deutscher Sommer“ wird ein Stück Zeitgeschichte wach gerufen. Nicht nur der Blickwinkel von Tätern, Opfern, Angehörigen, Ermittlern und politischen Entscheidungsträgern wird beleuchtet. Auch – und vor allem geht es um den Journalismus in Deutschland, um den radikalen Werteverfall, der durch das „Gladbecker Drama“ ausgelöst wurde und in einem permanenten Ringen nach auflage- und quotenträchtigen Skandalen mündete. Daran besteht kaum Zweifel, und dies ist auch ein ehrbares Motiv. Als Essenz für ein opulentes Erzählwerk reicht dies (leider) nicht aus, das Roman-Unternehmen ist auch an den eigenen großen Ambitionen gescheitert.
Peter Henning: Ein deutscher Sommer. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2013, 604 Seiten, 22,99 Euro
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
1 Kommentar
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.