BUCH DER WOCHE: Ein kurzes Glück
Michael Kumpfmüller: Die Herrlichkeit des Lebens. Roman. Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2011, 238 Seiten, 18,99 Euro
„Der Doktor beginnt zu träumen, wie das wäre, wenn er nach Berlin käme, worauf sie erwidert, das wäre doch sehr schön.“ Der Doktor ist kein Geringerer als der weltberühmte Prager Schriftsteller Franz Kafka (1883-1924), der - von einer Lungenkrankheit schon schwer gezeichnet - im Sommer 1923 während eines Ostseeurlaubs zufällig die Köchin und Kinderbetreuerin Dora Diamant kennenlernt, in deren Armen er am 3. Juni 1924 stirbt.
Kafka und seine fünfzehn Jahre jüngere Geliebte sind die Hauptfiguren in Michael Kumpfmüllers viertem Roman. Kafka sei „ein Schatz der frühen Lesebiografie“, hatte der 50-jährige Autor erklärt, der erst spät, aber überaus erfolgreich literarisch debütierte. Mit fast vierzig hatte Kumpfmüller „Hampels Fluchten“ vorgelegt, seinen Romanerstling, den die FAZ einst vorabgedruckt hatte. Vor drei Jahren war er für „Nachricht an alle“ mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnet worden.
Kafka und sein ambivalentes Verhältnis zu den Frauen hat in der Vergangenheit schon mehrere Generationen von Literaturwissenschaftlern beschäftigt. „Briefe und immer wieder Briefe, in denen nur stand, warum er nicht bei ihnen war und nicht mit ihnen lebte“, heißt es bei Kumpfmüller in Anspielung an Kafkas Vor-Dora-Zeit. Die Korrespondenzen mit Felice Bauer und Milena Jesenská sind im Gegensatz zu Kafkas Briefwechsel mit Dora erhalten geblieben.
So bewegt sich Kumpfmüller weitestgehend auf spekulativem Terrain; er erzählt behutsam von der zarten Annäherung, ganz den damaligen Etiketten gehorchend. Wie Kafka die einzige Frau, die er nah an sich herankommen ließ, für sich gewinnen konnte, wirkt heute steif bis schüchtern-verklemmt, aber gerade deswegen auch absolut authentisch. „Er ist krank, er ist fünfzehn Jahre älter als sie, trotzdem könnte er versuchen, mit ihr zu leben.“
Dora und der Doktor (wie er beinahe ehrfurchtsvoll von ihren Freunden genannt wird) leben nach der Kennenlernphase an der Ostsee in einer winzigen Wohnung im Berliner Stadtteil Steglitz - mitten in der schlimmsten Inflationsphase, in der ein Brot fast schon ein Vermögen kostete. Dem so ungleichen Paar ist nur ein kurzes Glück beschieden. Aus heutiger Perspektive könnte man resümieren: Dora hat Kafka das Sterben erleichtert, ihm noch einige schöne Wochen geschenkt und ihm die Gewissheit vermittelt, dass das Leben auch schöne Seiten haben kann. „Ich will nur sein, wo du bist, der Rest wird sich finden,“ beteuert die junge Frau. Als Kafka im Sommer 1924 im Sanatorium Kierling stirbt (das darf heute nicht vergessen werden), ist er noch ein weithin unbekannter, vor allem ein beinahe mittelloser Autor.
Michael Kumpfmüller, der Tagebücher, Briefe und einige Werke geschickt mit in die Handlung einfließen lässt, evoziert eine seltsame Atmosphäre, changiert dabei zwischen Distanz und Nähe und erzählt mit einem Höchstmaß an Empathie. Kapitelweise wechselt er die Erzählperspektive und hebt durch diesen Kunstgriff Dora auf Augenhöhe mit Kafka.
Wenn am Ende von den Qualen des Verdurstens die Rede ist, läuft der „Durst“-Spezialist Kumpfmüller (er veröffentlichte 2003 einen Roman mit dem Titel „Durst“) zur erzählerischen Hochform auf und lässt den sterbenden Dichter beim Anblick einer Vase mit halb verblühtem Flieder noch einmal den Durst nach Leben verspüren. Ein großer symbolischer Akt.
Zwischen den Zeilen schwingt zwar stets eine stille Bewunderung Kafkas mit. Trotzdem hat Kumpfmüller der verlockenden Versuchung widerstanden, ein literarisches Heiligenbild zu entwerfen. Ganz im Gegenteil: Sein Kafka hat nichts ikonenhaftes, er ist eine Figur aus Fleisch und Blut, ein todkranker Mann von Anfang vierzig, der sich nach einer Prise Glück sehnt und sich verbissen an den kurzen Rest seines Lebens klammert.
Für den Leser ist es daher auch nur von nachrangiger Bedeutung, dass in dieser Roman-Annäherung an eine große Figur der Literaturgeschichte die dichterische Fiktion deutlich dominiert gegenüber den gesicherten historischen Fakten. Das spricht für Michael Kumpfmüllers Qualität, denn er hat uns ein Kafka-Bild mit reichlich Atem der 1920er Jahre vorgelegt, das so stimmig und rund daherkommt, dass wir gerne bereit wären, es für authentisch zu halten.
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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