BUCH DER WOCHE: Deutsch-russisches Kammerspiel
Eva Baronsky: Magnolienschlaf. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2011, 185 Seiten, 17,95 Euro
„Wenn die Würde verloren geht, bleibt nichts als Scham und Abscheu vor dem eigenen Körper, Wut und die grenzenlose Hoffnung, dass es endlich vorbei ist.“ Diese Gedanken gehen der 91-jährigen Wilhelmine Hennemann durch den Kopf, eine der beiden Hauptfiguren in Eva Baronskys zweitem Roman, der sich wie ein dramatisches deutsch-russisches Kammerspiel liest.
Die Autorin erzählt alternierend auf mehreren Zeitebenen. Die Erinnerungen der pflegebedürftigen Seniorin vermischt sie mit Kindheitsgedanken ihrer russischen Pflegerin Jelisaweta. Zunächst klappt alles bestens zwischen der als Urlaubspflegerin von den kaltherzigen Verwandten angeheuerten Jelisaweta und der betagten Seniorin. 700 Euro hatten Wilhelmines Neffe und dessen Frau der Russin, die sich als Lisa vorgestellt hatte, als monatliches Salär für die Zeit ihres Urlaubs angeboten.
Die Stimmung zwischen den Frauen schlägt abrupt um. Jelisaweta hatte am Telefon russisch gesprochen. Die alte Frau ist außer sich, wirft ein Wasserglas nach dem Mädchen, längst verdrängte Erinnerungen werden wachgerufen, auch an das Kriegsende, als Wilhelmine unter einem Magnolienstrauch aufgewacht war.
In der Begegnung der beiden Frauen unterschiedlicher Generationen hat Eva Baronsky (43) auch das Zusammentreffen zweier Kulturen integriert: die deutsche Greisin trifft auf die junge russische Pflegerin, und dabei wird peu à peu auch die deutsch-russische Vergangenheit abgearbeitet. Das so entfachte Täter-Opfer-Rollenspiel mündet in ein erbarmungsloses gegenseitiges Schikanieren.
Auch die junge Russin begibt sich auf eine innere Reflexionstour. Sie wird mehr und mehr an ihre „Babka“, die seelisch kranke Großmutter erinnert, die einst von deutschen Soldaten vergewaltigt worden ist.
Eva Baronsky erzählt diesen Roman in einer zupackenden und schnörkellosen Sprache. Das Alter, die wieder aufbrechenden Wunden der Vergangenheit und der unabänderliche körperliche Verfall sind die dominierenden Sujets. En passant wird in diesem erzählerischen Kammerspiel auch noch die unerfreuliche Entwicklung der Dumpinglöhne im Pflegebereich angerissen. Ein tiefsinniger, bewegender, aber völlig unpathetischer Roman um Schuld und Sühne und das „Schicksal“ der späten Geburt.
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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