BUCH DER WOCHE: Alles endet beim Vater

Josef Haslinger: Jáchymov. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2011, 271 Seiten, 19,90 Euro

„Aus einem Heilbad mit Grandhotel war ein System von Konzentrationslagern geworden, mit dem ein kommunistischer Staat dem großen Bruder den Gefallen getan hatte, für dessen unermesslichen Hunger nach Uran einen Teil der eigenen Bevölkerung zu opfern“, klärte der österreichische Schriftsteller Josef Haslinger in einem Interview über die unheilvolle Wandlung des Handlungsortes seines neuen Romans auf.
Das kleine Erzgebirgsstädtchen Jáchymov (dt.: Joachimsthal) war das älteste Radiumsolheilbad der Welt, ein Kurort mit durchaus mondänem Flair. Und vor den Toren des Ortes gab es alte Bergwerke, in denen zunächst die Nationalsozialisten durch russische Kriegsgefangene Uran abbauen ließen. Nach Kriegsende mussten deutsche Gefangene die gefährliche Arbeit in den Stollen verrichten, später schickten die tschechischen Kommunisten politisch missliebige Landsleute in die Lager nach Jáchymov, wo sie das radioaktive Uranerz mit den bloßen Händen schaufeln mussten.
Einer dieser politischen Gefangenen der frühen Nachkriegszeit war der Eishockeystar Bohumil Modry, der als Torwart zweimal Weltmeister mit der tschechischen Mannschaft geworden war, dann übel denunziert und 1950 wegen „Kontaktnahme mit einer fremden Macht“ zu 15 Jahren Haft verurteilt worden war.
Der 56-jährige österreichische Schriftsteller Josef Haslinger, der mit „Opernball“ (1995) und „Vaterspiel“ (2000) zwei wirklich bedeutende Romane der jüngeren Vergangenheit vorgelegt hat, nähert sich der realen Figur des einstigen tschechischen Sportstars aus der Perspektive seiner Tochter Blaha, die er Ende der 1980er Jahre persönlich kennen gelernt hat und die er im Roman leicht fiktionalisiert als Tänzerin auftreten lässt, die ein Manuskript mit Aufzeichnungen und Erinnerungen über ihren Vater mit sich herum schleppt.

Wechselvoller Ort

Sie trifft in Jáchymov, diesem wechselvollen Ort, auf den Wiener Verleger Anselm Findeisen, der sich im Heilbad Linderung seiner starken Rheumabeschwerden erhofft. Jener Findeisen, der die Modry-Tochter geradezu hartnäckig zum Schreiben animiert, wird durch diese Begegnung selbst noch einmal mit seiner eigenen Vergangenheit als freigekaufter DDR-Republikflüchtling konfrontiert.
„Schreiben war am Anfang für mich träumen. Ich kam ständig vom Weg ab, aber es endete immer bei meinem Vater“, bekennt die Tänzerin in ihren Erinnerungen an den Vater, der 47-jährig an Leukämie starb - sehr wahrscheinlich eine Folge der gnadenlosen Zwangsarbeit im Uranbergbau.
Die durch totalitäre Systeme zerrissenen Lebenswege von Findeisen und der Tänzerin kreuzen sich zufällig an einem geschichtsträchtigen Ort - so zufällig, wie einst Haslingers Begegnung mit der realen Modry-Tochter.
Aus Akten, Briefen und Erinnerungsfragmenten lässt Josef Haslinger, Professor für literarische Ästhetik in Leipzig, ein einfühlsames, rückwärtsgewandtes Vaterportrait, gleichzeitig ein opulentes Geschichtspanorama und auch noch eine künstlerische Einführung in die Eishockey-Welt entstehen - geschickt verborgen hinter einem selbst errichteten Schutzwall der Fiktionalisierung.
„Mir geht es nicht um Europa, mir geht es um meinen Vater“, stellt die Tänzerin gegenüber dem Verleger Findeisen klar. Und doch sind sich Europa und ihr Vater auf schreckliche Weise ganz nahe, denn im Leidensweg des Eishockeystars Modry spiegelt sich ganz nachhaltig auch ein unrühmliches Kapitel der jüngeren europäischen Geschichte.
Genau darin liegt die große Qualität dieses Romans; durch dieses Individualschicksal lassen sich all die menschenverachtenden Schikanen und die gigantischen Auswüchse der politischen Willkür erahnen, die sich hinter dem Eisernen Vorhang ereigneten und bis heute nicht restlos aufgearbeitet wurden.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

8 folgen diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.