Neue Novellen von Hartmut Lange
Bewusstsein für imaginäre Welt
„Der Mensch hat die Fähigkeit, die eigene und sonstige Natürlichkeit gedanklich zu übersteigen, das heißt, er hat ein Bewusstsein, und dieses Bewusstsein schafft eine imaginäre Welt und richtet sich danach aus“, heißt es im essayistischen Nachwort des neuen Novellenbandes aus der Feder von Hartmut Lange.
Auch in seinen neun neuen Texten betätigt sich der inzwischen 85-jährige „ungekrönte König“ der philosophischen Gegenwartsnovelle wieder als Grenzerkunder zwischen Unterbewusstsein und anspielungsreicher Fremd-Determination, zwischen aufgewühlten Emotionen und kühler Rationalität.
"Nicht in der Wahrheit, sondern in der Täuschung werden die Untiefen der Existenz berührt", hatte der Dozent Wernigerode in Hartmut Langes Band „Der Therapeut“ (2007) erklärt. Ist dieses Bekenntnis der literarischen Figur eine Art Schlüssel zum stets etwas rätselhaften Werk des Berliner Autors?
Es sind wieder einmal die auf den ersten Blick lapidar erscheinenden Alltagsbeobachtungen, die in den Figuren einen geheimnisvollen Impuls auslösen. Ein Schriftsteller in mittleren Jahren wird von einer Schreibblockade heimgesucht. Er beobachtet eine Frau im gegenüberliegenden Haus, wähnt auch sie als Beobachterin. Oder hat er sich all dies nur eingebildet? Eine Konstellation, die stark an Dürrenmatts Novelle „Der Auftrag“ (1986) erinnert, die den Untertitel „Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter“ trägt. Er fasst sich ein Herz, überquert die Straße und erhält an besagtem Haus die Auskunft, dass die betreffende Wohnung wahrscheinlich schon länger unbewohnt sei. Die Kreativkrise geht weiter: „Solange ich nicht weiß, ob das, was ich dort drüben sehe, der Wirklichkeit geschuldet ist, kann ich nichts darüber schreiben, dachte er.“
Eine typische Lange-Figur – Individuen, deren ausgeprägte Beobachtungsgabe (bisweilen sind es auch traumhafte Imaginationen oder eine Mischung aus beidem) oft das Seelenleben in Turbulenzen versetzt. Aus dem Nichts heraus wird Unbehagen oder sogar handfeste Ängste evoziert. Stimmungen, von denen der Leser eingefangen wird. „Und doch war ich in der Lage, wenn auch nur schemenhaft, den Umriss einer Person zu erkennen“, heißt es in der den Band einleitenden Titelgeschichte. Norwegens Hauptstadt Oslo, wiederkehrender Ort im Büchlein, erhält einen gespenstisch finsteren Anstrich – nicht zuletzt als „Heimat“ von Edvard Munchs weltberühmtem Gemälde „Der Schrei“, das als "Sinnbild für Angst, Furcht, Zittern und die Krankheit zum Tode" bezeichnet wird.
An anderer Stelle kommt ein Museumsbesucher mit einer Frau auf einem Gemälde ins Gespräch, und ein Baum wehrt sich gegen seine Abholzung. Da ist Hartmut Lange wieder in seinem dichterischen Element, wandert durch das unwegsame Terrain der menschlichen Seelen und gewährt uns (unbedarfte) Leser schaurige Einblicke.
Mit seiner schlanken, aber höchst präzisen, manchmal etwas altbacken wirkenden Sprache fasziniert Lange seit nun vierzig Jahren, seit Erscheinen seines Romans „Die Selbstverbrennung“. Scheinbar unerklärliches menschliches Handeln, irrationale Obsessionen und rätselhafte Ausbrüche aus dem geregelten Alltag – das sind wiederkehrende Motive in Hartmut Langes kleinen Büchern, die nur auf der Waage das Nachsehen gegenüber opulenten Romanen haben. 40 Jahre Prosa auf allerhöchstem Niveau.
Passend dazu ist jüngst für alle Hartmut Lange-Fans ein lesenswertes, erklärendes Werk aus der Feder des Kölner Rundfunkredakteurs Jan Drees erschienen.
Hartmut Lange: Am Osloer Fjord oder der Fremde. Novellen. Diogenes Verlag, Zürich 2022, 103 Seiten, 22 Euro
Jan Drees: Literatur der Krise. Das Novellen-Werk von Hartmut Lange. Arco Wissenschaft, Wuppertal 2022, 393 Seiten, 38 Euro
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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