Aufbruch ins Ungewisse
Peter Stamms Roman „Über das Land“
„Thomas stand auf und ging auf dem schmalen Kiesweg am Haus entlang. An der Ecke angelangt, zögerte er einen Augenblick, dann bog er mit einem erstaunten Lächeln, das er mehr wahrnahm als empfand, zum Gartentor ab.“ Die männliche Hauptfigur in Peter Stamms neuem Roman bricht ohne vordergründig erkennbaren Grund aus dem Alltag aus, lässt Frau und Kinder im Thurgau zurück und verschwindet.
„Das Tragische gefällt mir, weil es mehr Nähe ermöglicht als das Komische, es ist viel gegenwärtiger", hat der Schweizer Autor Peter Stamm vor einigen Jahren in einem Interview mit dem Zürcher "Tages-Anzeiger" erklärt. Spätestens mit seinem mehr als 100 000mal verkauften Roman "An einem Tag wie diesem" (2006) hat sich Stamm in der ersten Reihe der deutschsprachigen Gegenwartsautoren etabliert und seinen Ruf als präziser Beobachter gestörter zwischenmenschlicher Beziehungen noch einmal bekräftigt.
Thomas' Ehefrau Astrid baut sich in einer Mischung aus Scham und Trauer ein Lügengebäude auf, erklärt den Kindern, dass der Vater auf Geschäftsreise sei, und dem Arbeitgeber täuscht sie eine Erkrankung vor. Irgendwann hat sich die verlassene Ehefrau an ihren Zustand des Alleinseins gewöhnt, hat aus Trauer um den Verlust neue Kräfte geschöpft und eine Jetzt-Erst-Recht-Mentalität entwickelt, obwohl sie (immer dann wenn sie zur Ruhe kommt) in ihren Gedanken stets mit der Präsenz des Abwesenden zu kämpfen hat.
Peter Stamm (53) erzählt diese Trennungsgeschichte alternierend aus Astrids und Thomas' Perspektive. Dabei entwickelt er eine deutliche stärkere Affinität zur Astrid-Figur (und das nicht auf einer Mitleids-Schiene fahrend), sie denkt mehr, sie reflektiert mehr, ja - sie fühlt auch mehr: Verlust, Trauer und Schuldgefühle bilden eine komplizierte emotionale Melange.
Zeitgenössischer Robinson
Während der flüchtige Thomas (auf ziemlich archaische Weise) „nur“ lebt – losgelöst von allen Zwängen, offensichtlich auf der Suche nach sich selbst. Diese Aussteiger-Mentalität ist zwar immer noch reizvoll, aber Thomas' Art, den Alltag zu meistern, wirkt hier allzu abenteuerlich, wie ein zeitgenössischer Robinson Crusoe, der in verdreckten Zelten und Wäldern campiert und vom Thurgau bis über den Gotthard zieht.
Das ist alles von Peter Stamm absolut seriös arrangiert und auch handwerklich perfekt umgesetzt, aber diesem Roman mangelt es an Eigendynamik, an Ecken und Kanten. Das Ende schrammt sogar haarscharf an der Kitschgrenze vorbei. Plötzlich ist der abtrünnige Ehemann wieder da, und Astrid ist offensichtlich glücklich darüber, „dass Thomas all die Jahre kein anderes Leben geführt hatte, dass er keine neue Beziehung eingegangen war.“
Genügsamkeit, Treue und Demut à la Peter Stamm, der diesmal (leider) in etwas seichteren literarischen Gewässern gefischt hat.
Peter Stamm: Weit über das Land. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2016, 223 Seiten, 19,90 Euro.
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.