Antonio Muñoz Molinas opulenter Roman „Schwindende Schatten“
Am Ende ist alles anders

 Es ist ein beinahe kafkaesker Romananfang. Ein Mann erwacht aus ei­nem Traum, hat sich zwar nicht wie Gregor Samsa in „Die Verwand­lung“ in ein Ungeziefer verwandelt, doch er hatte vergessen, „wo ich mich befand, und ich war wie er oder war er, weil mein Traum mehr seiner war als mei­ner.“

Im neuen Roman des spanischen Schrift­stellers Antonio Muñoz Moli­na, der 1991 für den Roman "Der pol­nische Reiter" den Pre­mio Pla­neta (den wich­tigsten spa­nischen Literaturp­reis) erhalten hat und Mit­glied der Königli­chen Akademie ist, geht es um die Annäh­erung an einen At­tentäter und um geo­grafische Berüh­rungspunkte in unter­schiedlichen Biografie­n.
Der 63-jährige Muñoz Molina, der abwech­selnd in New York und Ma­drid lebt, hat sich recherchierend auf die Spuren des Martin Lu­ther King-Attentäters Ja­mes Earl Ray begeben. Er sieht im Attentäter nicht nur einen Mörder, sondern in ihm auch ein Opfer des offenen Rassis­mus im amerikani­schen Alltag der 1960er Jahre.
Der Psyche des Täter widmet sich der ausgebildete Historiker Muñoz Molina ähnlich intensiv wie Patricia Highsmith in ihren Kriminalroma­nen. Nach Wochen auf der Flucht, die ihn auch nach Lissabon führte, wurde Ray auf dem Flughafen Heathrow in London gefasst. Nach ei­nem ersten Geständnis folgte ein Widerruf und meh­rere Fluchtversu­che. 30 Jahre nach der Tat starb Ray im Gefängnis von Nashville. Der Mann aus der Unterschicht hatte sich mit Hypnose und „Psychokine­se“ beschäftigt, verspürte einen ausgeprägten Drang nach Macht, war von einem fast unstillbaren Wissensdurst und einer Sehnsucht nach gesellschaftlichem Aufstieg angetrieben. Ein Lebens­gefühl, das durchaus dem eines „durchschnittlichen“ Südstaa­ten-Kleinbürgers seiner Zeit entsprach.

Auf den Spuren des Attentäters

„Es war ein Rassismus der armen Weißen. Ein brutaler Rassismus, denn diese Armen hatten nicht genug für ihre Lebensgrundlage. Sie standen in der Gesellschaft ganz unten – nur knapp über den Schwar­zen“, räsoniert die Hauptfigur, ein in die Jahre gekommener spani­scher Schriftsteller, der (kein Wunder!) Munoz Molina nicht unähn­lich ist.
Der gebürtige Andalusier hat für diesen opulenten, manchmal etwas ausschweifenden Roman ein gigantisches Aktenstudium betrieben, hat akribisch recherchiert, ein Museum in Memphis besucht, in dem Tatwaffe und Kleidung des Täters ausgestellt sind und den Tatort auf­gesucht, an dem Martin Luther King am 5. März 1968 - auf einem Bal­kon stehend – von Ray erschossen wurde. Entstanden ist daraus ein opulentes erzählerisches Konvolut aus Fakten, Imagination und kriti­scher Selbstbefragung: „Ich fragte mich, wie kann ein Mensch in so einer Einsamkeit leben? Das ist eine schreckliche Frage."
Lissabon spielt eine ganz wichtige, beinahe magische Rolle. Die portu­giesische Hauptstadt, in der Ray für einige Zeit untergetaucht war, hat Muñoz Molina 2013 für seine Recherche besucht, und dort ist auch die Handlung seines Debütromans „El invierno en Lisboa“ (1987) angesiedelt.
Es ist ein durch und durch moralisches Buch, und man muss bereit sein, sich auf diesen bislang ungezügelten, assoziativen Erzähl- und Bekenntnisstrom einzulassen. „Es ist Gegenwart. Wir erleben gerade, wie eine vermeintlich weiße Überlegenheit wiederkehrt. Wir erleben die Schamlosigkeit einer rassistischen Sprache, der sich Trump be­dient."
Es geht auf der reflektierenden Ebene aber auch um die Wandlung ei­nes Autors, ums Älterwerden, um Schreibblockaden und (häufiger hört man von den Schwierigkeiten des ersten Satzes) handfeste Pro­bleme mit einem adäquaten Romanende. Muñoz Molina springt glei­chermaßen lust- wie schwungvoll zwischen den Schauplätzen Lissa­bon und Memphis hin und her und bewegt sich im Handumdrehen auf der Zeitachse 45 Jahre vor und wieder zurück. Ein waghalsiges kunstvolles Spiel, das alle Genregrenzen überschreitet und dessen Lektüre auf den Leser wirkt wie ein behutsames, erforschendes Wan­deln durch ein Labyrinth.
"Man kann die Dinge so gut planen wie man will, am Ende ist doch al­les anders." Das gilt für den Attentäter Ray, für den vorliegenden, fas­zinierenden Roman und auch für den preisgekrönten Autor Antonio Muñoz Molina – alles ist „ein Spiel mit schwindenden Schatten."

Antonio Muñoz Molina: Schwindende Schatten. Roman. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Penguin Verlag, München 2019, 505 Seiten, 26 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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