Martin Walsers Band „Sprachlaub“ kommt am Dienstag (23. März) in den Handel
Am Abend Schatten hacken

Martin Walser, der Grandseigneur der deutschsprachigen Gegen­wartsliteratur, schreibt unaufhörlich und mit einer bewundernswer­ten Energie. Noch immer gibt es jedes Jahr ein neues Büchlein aus der Feder des Großmeisters vom Bodensee, der am Mittwoch seinen 94. Geburtstag feiert.

Keine ausuferndern Romane mehr, wie er sie früher geschrieben hat („Die Verteidigung der Kindheit“, „Ein springen­der Brunnen“, „Der Le­benslauf der Liebe“ oder „Muttersohn“), keine poli­tisch-gesellschaftlich bri­sante Prosa (wie „Finks Krieg“ und „Tod eines Kri­tikers“), keine provozie­renden Essays: Seit eini­gen Jahren hat sich Walser literarisch zurückgezogen auf aphoristisch-assoziative Texte mit autobiografischem Back­ground. Oftmals sind es Gedankensplitter mit selbst be- und hinter­fragendem Charakter.
Nur selten kommt der polternde und mit Gott und der Welt hadern­de Walser im neuen Bändchen noch zum Vorschein, etwa als er über die Macht der Medien und deren Glaubwürdigkeit sinniert. Ansons­ten dominiert in den kurzen, oft fragmentarisch daher kommenden Textbröseln ein versöhnlicher Tonfall. Walser scheint seine Sätze bis­weilen in ein Honigbad zu tauchen, zuckersüß soll es klingen – auch, wenn er über Alter, Tod, über Krankheiten und Veränderungen in der Natur schreibt. Der Untertitel dieses Bandes („Wahr ist, was schön ist“) ist mehr als nur eine vage Fährte.
„Mir sagt die Amsel, was ich wissen will. Du brauchst keine Vergan­genheit, sagt sie, Zukunft genügt. Wem, wenn nicht der Am­sel, darf ich glauben“, heißt es im Band, und der 94-jährige Walser re­klamiert da für sich (beinahe trotzig) einen Funken Resthoffnung und eine nicht zu leugnende Neugier auf das, was der nächste Tag bringt. „Steh mit dem Rücken zur Gegenwart, im Garten verglüht meine Ge­schichte.“
Demgegenüber stehen Gedanken über den körperlichen und geisti­gen Verfall, jenen Zustand, den Philip Roth einmal mit den Worten „Das Alter ist ein Massaker“ beschrieben hat. „Zuerst zieht man sich Krankheiten zu, dann zieht man Ärzte hinzu, dann schickt man die Ärzte wieder weg, um mit den Krankheiten allein zu sein.“ Und im­mer noch scheint Walser sich selbst unter einem gewissen kreativen Druck zu setzen: „Nachts, wenn ich schlafe, könnte ich schmerzfrei arbeiten.“

Der Wind als Souffleur

Im Kontrast dazu stehen viele Momentaufnahmen, in denen sich Walser mit der Natur beschäftigt. Bäume, Vögel (häufig ist es die Am­sel), Jahreszeiten, der Wind „als Souffleur“, der Himmel, der das „Licht spazieren fährt“, der Regen, der „dicht und leis: wie Seide“ fällt, die „schüchterne Fledermaus“ und der „renommierte Fuchs“, der See als „Analphabet“ - das fügt sich alles mit den Aquarellen der Walser-Tochter Alissa zu einem eigentlich walser-untypischen, auf Harmonie bedachten Gesamtbild. Die Linien der Aquarelle sind mal geschwungen, mal akkurat geometrisch und enthalten viele Rundun­gen. Hier ufert nichts aus, es gibt keine Ecken und Kanten in den Bil­dern. Die auffallend häufig benutzten Pastelltöne drücken Sanftheit aus und wirken ausgesprochen beruhigend auf den Betrachter.
Eingestreut in den Band gibt es auch noch ganz persönliche Zeilen über den verstorbenen Schriftstellerkollegen Rolf Hochhuth und einen Traum, in dem Walser Elvis Presley am Grab seiner Mutter treffen möchte, „singen soll er auf dem Friedhof in Wasserburg“.

Abends, wenn es hell wird

Manchmal möchte Walser, der im letzten Sommer mit seiner Ehefrau Käthe das seltene Fest der Gnadenhochzeit feierte, die Welt anhalten und sie schreibend auf den Kopf stellen – allen Gesetzmäßigkeiten zum Trotz: „Abends, wenn es hell wird und auf den Zähnen Vorsicht wächst, sind wir am Zug mit Sprachen voll Lauten des Schweigens.“
Martin Walser wird immer mehr zum Maler der Sprache, er tupft die Wörter mit großer Sorgfalt auf das Papier. Mal entstehen auf diese Weise tiefsinnige, lebenskluge, philosophisch anmutende Zeilen, mal sind es aber auch nur verbal aufgehübschte Alltagsbanalitäten.
„Bewundernd und bewundert/kommt man in die Welt/verachtet und verachtend/verlässt man sie, wenn alles/normal verläuft“, resümiert Walser in der Pose des stets unverstandenen Dichters, der in diesem Band hin und wieder den süßen Worten der Amsel doch nicht zu trauen scheint und „gegen Abend ein Beil nehmen und Schatten hacken“ möchte.
Ist das (um noch einmal die Volte zum Untertitel zu schlagen) wahr? Ist das schön? Wer weiß? Es ist aber ganz sicher ein lupenreiner Martin Walser. Eine (gedankliche) Spätlese des Jahrgangs 2021. Nicht süffig und geschmeidig, sondern kräftig und mit lang anhaltendem Abgang.

Martin Walser: Sprachlaub oder wahr ist, was schön ist. Mit Aquarellen von Alissa Walser, Rowohlt Verlag, Hamburg 2021, 142 Seiten, 28 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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