„Auf dem Seil“ - der neue Roman von Georg-Büchner-Preisträgerin Terézia Mora
Alles vergessen
„Wenn ich jetzt versuchen würde, von außen meine Werke zu betrachten, so tauchen doch immer und immer wieder diese bedrängten und ohnmächtigen und suchenden und traurigen Figuren auf, weil es offensichtlich das ist, was ich am besten verstehe von den Phänomenen der Welt“, hatte Terézia Mora kürzlich ihre überaus erfolgreichen Romane selbst zu erklären versucht. Als sie im letzten Jahr mit dem Georg-Büchner-Preis quasi den literarische Ritterschlag bekam, lobte die Darmstädter Jury: „Schonungslos nimmt sie die Verlorenheit von Großstadtnomaden in den Blick und lotet die Abgründe innerer und äußerer Fremdheit aus.“
All das trifft punktgenau auf Darius Kopp zu, Moras Hauptfigur im neuen Roman und in den beiden Vorgängerwerken „Das Ungeheuer“ (2013) und „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ (2009). Kopp, der einstige „Durchstarter“ der New-Economy-Welle, der emsige Experte für drahtlose Netzwerke und hoch bezahlte Mitarbeiter eines amerikanischen Branchenriesen, geht inzwischen auf die Fünfzig zu und hat allerlei heftige Rückschläge verkraften müssen. Wir erinnern uns daran, wie er im Roman „das Ungeheuer“ nach dem Suizid seiner Ehefrau mit der Urne im Kofferraum durch Osteuropa fuhr – auf der Suche nach einem passenden Beisetzungsort.
Zu Beginn des neuen Romans ist der übergewichtige, dauer-transpirierende Kopp in der Nähe des Ätna auf Sizilien gestrandet. Er hat sich aus dem Leben ausgeloggt – hat seine Eigentumswohnung in Berlin verkauft, liest keine Mails mehr und versucht sich loszueisen von dem Ballast der Vergangenheit. Sein sehnlichster Wunsch: „Alles vergessen, was einen zurückzieht.“
Kopps Vita ist geradezu paradigmatisch für die Schnelllebigkeit unserer Zeit. Erst peu á peu lernt er es wieder, die sogenannten kleinen Dinge zu schätzen. Er freut sich auf den Sonnenaufgang und die Abende auf der Terrasse im mediterranen Ambiente. Doch die Einsamkeit löst auch quälende Selbstbefragungen aus. Und allzu viel Ruhe gönnt Mora ihrem Anti-Helden auch nicht.
Die 48-jährige Terézia Mora kam in Sopron (nahe der ungarisch-österreichischen Grenze) zur Welt, wuchs zweisprachig auf und übersiedelte 1990 nach Berlin. Vor exakt zwanzig Jahren schaffte sie mit dem Gewinn des Ingeborg-Bachmann-Preises den literarischen Durchbruch. Wie in den Vorgängerwerken zieht sich auch jetzt die Ironie als latente Hintergrundmusik wie ein roter Faden durch die Handlung. "Ich kann nicht anders, als glücklich zu sein", bekundet Kopp zu Anfang des Buches, und beim Leser regen sich sogleich Zweifel. Moras Protagonist mutiert zum fantasievollen Selbsttäuscher, der trotz seiner fast fünfzig Jahre bisweilen wie ein liebenswerter, verträumter, dauerpubertierender Teenager daher kommt.
Der Leser wird hineingezogen in reflexive (teils imaginierte) Gedanken, die tief in Kopps Innenwelt ihre Wurzeln haben. Da ist die Begegnung mit seiner Schwester Marlene, und später sucht ihn sogar deren Tochter Lore(lei) auf - 17 Jahre alt, schwanger und ziemlich zickig. Mit Lores Auftauchen kehrt so etwas wie Verantwortungsgefühl in Kopps Leben zurück. Er macht sich auf den Weg zurück nach Berlin, mit einem jungen Mann namens Metin im Schlepptau, der sich in Lore „verguckt“ hat.
Mit dem „Cut“ im Leben, mit der Odyssee durch halb Europa im „Gepäck“, gewinnt Moras Protagonist auch eine andere Perspektive von Berlin. Er schaut nicht mehr aus dem Blickwinkel des IT-Experten von oben, sondern aus einer Art Kellerlochperspektive von unten – mit dem Blick des mittellos gewordenen Zuwanderers oder Rückkehrers, wie ein trotziger Harlekin, der dem Leben die Zunge entgegen streckt. „Ich könnte auf einem Seil schlafen, wenn es sein müsste."
Ist Darius Kopp wieder im „Alltag“ angekommen? Kann er nach seinem rasantem Aufstieg und dem knallhartem Fall wieder irgendwie Fuß fassen im urbanen Moloch Berlin?
Zu fragen sind wir da, nicht zu antworten, hat einst der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen gefordert. Terézia Mora, die sich einmal mehr als Meisterin der ironischen Erzähltragödie präsentiert, lässt den Leser mit einem Wust an offenen Fragen zurück. Das ist teils schmerzhaft, manchmal jedoch auch humorvoll, aber immer geradezu virtuos erzählt.
Terézia Mora: Auf dem Seil. Roman. Luchterhand Verlag, München 2019, 360 Seiten, 24 Euro
Autor:Peter Mohr aus Wattenscheid |
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