Weggehen
Das Mädchen kommt aus der Schule, sie geht in die dritte Klasse.
Papa ist schon zuhause und es gibt Bohneneintopf. Das Mädchen mag grüne Bohnen gerne - nur heute ist die Stimmung eigenartig. Ihre Mama ist aufgeregt und mahnt das Mädchen schneller zu essen. Die Eltern des Mädchens essen nicht und darum hat es auch keinen Appetit mehr. Alle schieben die Teller zurück.
Mama will, dass sich das Mädchen zwei Unterhemden und zwei Unterhosen unter ihr Sommerkleid zieht.
Dann steckt Mama Socken und Babysachen in das Kinderwagenkissen des kleinen Bruders. Sie sagt dem Mädchen, es soll sich Spielsachen mitnehmen, weil sie gleich zur Tante Gerda nach West-Berlin fahren.
Der neue rosa Teddy, der Affe und das Gummikrokodil sollen mit. Der Bär kommt in den Kinderwagen zum kleinen Bruder und das Mädchen trägt den Affen. Das Krokodil liegt noch auf dem Küchenstuhl.
Dann gehen sie los. Mama ist so blass und aufgeregt. Das Mädchen musste sich noch den Sommermantel anziehen - es ist doch so heiß!
Sie wollen zum Bahnhof, laufen aber nicht den direkten Weg. Das Mädchen schwitzt, darf aber den Mantel nicht ausziehen.
Auf einen Sprung gehen sie noch zur Oma. Das Mädchen wundert sich, weil die ganze Familie versammelt ist. Oma hält das Mädchen die ganze Zeit fest im Arm und heute darf es sogar die Warze auf Omas Nase anfassen.
Dann sitzen sie in der S-Bahn und fahren "rüber" in den Westen.
Mama und Papa sagen nichts und das Mädchen hat Angst, weiß aber nicht warum. Der Grenzübergang - Mama umklammert die Lenkstange des Kinderwagens so fest, dass die Knochen ihrer Hände ganz weiß werden.
Vor der Tür stehen zwei Vopos und schauen kontrollierend in den Wagen. Dann gehen die Türen zu, die Bahn fährt ab und an der nächsten Station steigen alle im Westen aus.
Heute bekomt das Mädchen keine Gummibärchen (für das Kind bedeuten sie "Westen" - süß, bunt, duftend).
Mama rennt mit dem Kinderwagen so schnell, dass Papa und das Mädchen kaum hinterher kommen.
Bei Tante Gerda fällt Mama in einen Sessel und weint schrecklich. Sie sagt immer nur: "Meine schöne Wohnung, meine Möbel, mein Teppich!"
Papa sagt dem Mädchen, dass sie jetzt im Westen bleiben.
Dem Mädchen fällt das vergessene Krokodil auf dem Küchenstuhl ein und die vollen Suppenteller stehen auch noch auf dem Tisch.
Am Abend warten sie in einer endlosen Schlange vor dem Flüchtlingslager Marienfelde. Es dauert so lange und das Kind ist so müde.
Ihnen wird ein Zimmer zugewiesen, das sie mit einer fremden Familie teilen müssen.
Am nächsten Morgen frühstücken sie in einem großen Speisesaal. Sie bekommen ein Besteck und eine Tüte mit Nahrungsmitteln aus amerikanischer Spende. Mama will, dass das Mädchen ein Margarinebrot isst, aber das Mädchen mag keine Margarine - obwohl die aus Amerika ist.
Dann wieder lange Schlangen und anstehen. "Zuerst werden wir entlaust", sagt Papa. Ein Arzt untersucht das Mädchen und alle werden geröntgt.
Dann, nach endlosem Warten, sitzen sie vor einem Schreibtisch und Papa redet mit einem Mann. Papa will dem Mann erklären, dass sie kommen mussten, weil ihm Gefängnis angedroht wurde, aber der Mann hört nicht zu.
Nie darf das Mädchen allein sein. Mama sagt, dass die Kinder von "denen da drüben" entführt werden. Ständig hält sie das Mädchen an der Hand, obwohl es schon fast zehn Jahre ist.
Dann sagt Papa, dass sie nach Bayern ziehen. In Berlin oder Köln gibt es keine Arbeit.
In Bayern gibt es Berge, dort wird gejodelt und alle tragen Dirndkleider. Das Mädchen freut sich.
Am Abend sieht das Mädchen einen Jungen, der Ähnlichkeit mit ihrem Cousin hat. Da muss sie schrecklich weinen und kann nicht mehr aufhören. Das Mädchen will nicht nach Bayern - sie will zurück nach Köpenick! Zu Oma und Opa, zu allen Verwandten!
Ein Bus bringt sie am nächsten Morgen zum Flughafen Tempelhof. Das Mädchen ist noch nie geflogen und kennt auch niemanden, der schon so hoch oben im Himmel war. Eine Stewardess serviert eingepacktes Essen, aber das Mädchen kann nur fasziniert aus dem runden Fenster schauen.
In München fahren sie mit einem Bus zum Bahnhof und müssen wieder lange auf einen Zug nach Neuburg an der Donau warten.
Dort werden sie in einer roten Backsteinkaserne untergebracht. Drei Familien wohnen hier in einem Zimmer. Das Mädchen muss nötig auf die Toilette, aber immer ist das einzige Klo auf dem Gang besetzt.
Mama schimpft über die Leute an der Deckenausgabe. Sie muss viel Geld für die Reinigung der Decken bezahlen, aber die sind schmutzig und stinken.
Einige Wochen später zieht die Familie weiter nach Hammelburg. Da wohnen sie mit drei weiteren Familien in einem Barackenraum.
Hier darf das Mädchen endlich allein draußen spielen.
Vor dem Stacheldrahtzaun toben Kinder. Das Mädchen geht zum Zaun, aber die Kinder zeigen mit Fingern auf es und schreien: "Pfui, ein stinkender Flüchtling!" Das Mädchen sitzt dann nur noch innerhalb der Umzäunung auf einer Treppe und schaut den Sonnenstrahlen zu.
Papa ist oft weg. "Er muss sich vorstellen", sagt Mama. Dann kommt er zurück und erzählt, dass alle ins Allgäu ziehen. Er hat eine Stelle bei einer Milchfirma gefunden und sie können erst einmal im Casino wohnen.
Der Bahnhof Bießenhofen - die neue Heimat - ist ganz klein. Mama ist wieder traurig. Hier gibt es nichts, nicht einmal einen Laden. "Ein Dorf in Bayern ist eben nicht Berlin", sagt Papa.
Das Zimmer im Casino ist noch kleiner. Es hat ein Waschbecken, einen Schrank, zwei Stühle und der kleine Bruder schläft bei Mama und Papa im Bett. Für das Mädchen wird eine kleine Liege in die Ecke geschoben. Die Toilette und das Badezimmer gegenüber muss mit zwei anderen Familien geteilt werden.
Nach so vielen Wochen schläft die Familie endlich wieder allein.
Dann wird das Mädchen in der Dorfschule angemeldet. Der Hauptlehrer ist dürr und hat ein unfreundliches Gesicht. "Das Kind hat zuviel versäumt und muss eine Klasse tiefer beginnen", sagt er zu Mama. Dem Mädchen ist das egal.
Eine Mitschülerin fragt das Mädchen warum es immer dieselben Sachen trage. Das Mädchen muss sagen, dass es nichts anderes hätte. Darufhin nimmt das Kind sie mit zu seiner Mutter und fragt, ob es etwas von seinen Sachen verschenken darf. Die Mutter schaut das Mädchen streng an und bringt dann ein grünes, gestricktes Dirndlkleid.
Die Mitschülerin begleitet das Mädchen nach Hause und erzählt, dass sie dieses Kleid nie angezogen hätte, weil es scheußlich ist. Dann treffen sie sich nicht mehr außerhalb der Schule. Die Mutter hatte den Umgang mit dem Flüchtlingskind verboten.
In der Schule ist das Mädchen viel allein und fürchtet sich vor dem toten Mann, der über der Tafel an einem Kreuz hängt.
Auch werden hier die Jungen und Mädchen getrennt unterrichtet. Mädchen sollen stricken und Jungen handwerkern. Aber das Mädchen kann nicht stricken! Die Lehrerin wird böse und sagt, das Mädchen sei stur und dumm. Plötzlich kommen tief aus dem Bauch viele Tränen, das Mädchen kann kaum noch atmen. Sie muss laut schluchzen und kann es nicht aufhalten. Alle anderen Kinder lachen laut über die komischen Geräusche. Die Lehrerin schickt das Mädchen vor die Tür.
Von da an kann das Mädchen nicht mehr schlafen und muss morgens brechen. Einmal kommt sie nicht schnell genug auf die Toilette und alles geht auf den Boden. Es ist schmutzig und stinkt. Die Nachbarin schimpft mit der Mutter des Mädchens.
Dann bekommt sie hohes Fieber - viele Tage kann sie nicht mehr aus dem Bett.
Der Arzt meint, das Kind hätte schwache Nerven und verchreibt einen rosafarbenen Schlafsaft. Contergan steht auf der Flasche. Damit wird es besser.
Das Mädchen soll wieder in die Schule. Davor hat sie große Angst.
Da fällt ihr das Lied von Prinz Liu aus einer Operette ein, das Mama so gerne singt.
"Immer nur lächeln und immer vergnügt, immer zufrieden, wie's immer sich fügt - doch wie's da drinnen aussieht geht niemand was an."
Von jetzt an lächelt das Kind immer und schwört sich selbst auf dem Weg zur Schule, dass es niemals wieder weinen wird.
Ein paar Wochen später kann die Familie die erste eigene Wohnung im Westen beziehen.
Das Mädchen wünscht sich eine Tapete, bedruckt mit Märchenfiguren. Aber dafür reicht das Geld nicht.
Die Wände werden weiß gekalt.
Autor:Gabriele Pohley aus Velbert-Neviges |
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