Das Hobby der Massener Familie macht Geschichte erlebbar
Alles wie im Mittelalter
Romantisch mit ehrenhaften Rittern, gerechten Königen und hübschen Prinzessinnen und abenteuerlich mit blutigen Schlachten um Burgen und Ländereien – so stellen sich viele das Mittelalter vor. Die richtigen Fans dieser Epoche machen daraus ein Hobby und leben wie zu jener Zeit. So konsequent wie möglich.
Große Flächen werden dann für sogenannte Mittelalter-Spektakel gemietet. Aus vielen Ländern Europas kommen die Mitwirkenden und schlagen in Lagern ihre Zelte auf. Handwerker geben Einblick in ihre Berufe, Waren werden an Marktständen verkauft, aber auch das einfache Lagerleben ist eine Sehenswürdigkeit. Besucher können sich alles ansehen. Von der Faszination des Mittelalters ist auch die Familie Gilles aus Unna-Massen begeistert. Sie sind Teil des Lagers Castra Carmensia. "Das bedeutet 'Kamener Lager'“, erklärt das jüngste Lagermitglied, die elfjährige Berenike. „Aber nur zwei Lagermitglieder kommen wirklich aus Kamen. Die anderen wohnen in der Nähe.“ Seit sie sich erinnern kann nimmt ihre Familie an den Mittelalterfesten teil. „Am Anfang waren wir nur zu Besuch. Wir sind zu ein paar Märkten gegangen und fanden es alle total schön. Dann haben wir angefangen, uns auch so zu gewanden, wie es vor fast 600 Jahren üblich war."
Eine ganz eigene Welt
Gewanden und nicht verkleiden, so heißt es in den Heerlagern. Über Jahre hinweg haben sich einige Floskeln und Begriffe durchgesetzt. Applaus heißt Handgeklapper, und wer zum Applaus auffordert, ruft „Jubel!“ Während der Besucherzeiten bemühen sich die Lagerteilnehmer um eine mittelalterliche Sprache. „Papa versucht immer den Besuchern ihre Kinder als Küchenjungen und Mägde abzukaufen“, erzählt die Elfjährige, „und manchmal feilschen die Eltern aus Spaß mit. Die meisten Kinder bekommen dann einen Schreck. Aber wir haben auch schon ein paar getroffen, die wirklich bei uns bleiben wollten.“
Die Arbeit im Lager wird unter allen gleichmäßig aufgeteilt. „Es gibt Schnippel-Dienst, Spül-Dienst, Wasser- und Holz-Dienst“, erklärt der 16-jährige Leander. „Gekocht und gegessen wird natürlich auch mittelalterlich. Das Essen bereitet unser Koch zu, aber für die Vorbereitung wählt er immer ein oder zwei Lagermitglieder aus. Die helfen dann hinterher auch beim Spülen. Weil das Lager keinen Wasseranschluss hat, müssen wir regelmäßig Wasser holen gehen. Dazu haben wir einen Leiterwagen, mit dem wir die Wasserkanister über den Markt fahren – natürlich abgedeckt.“
Keine modernen Gegenstände
Es gibt eine strenge Regel im Lager: Es dürfen keine modernen Gegenstände sichtbar sein, während der Markt geöffnet hat. Das bedeutet keine Handys, keine Plastikverpackungen und natürlich keine moderne Kleidung. Vor allem auf die Gewandung wird besonders geachtet, denn diese muss auch noch in die Darstellung passen. „Wir stellen ein Lager aus der Mitte des 15. Jahrhunderts dar, also ca. 1450“, sagt Lagerleitung Andreas Gilles, „Und wir achten sehr genau darauf, dass auch wirklich jedes Kleidungsstück in diese Zeit passt.“ Das ist manchmal gar nicht so einfach. „Für unsere Darstellung suchen wir in Archiven oder Museen nach historischen Abbildungen oder Fundstücken“, erklärt der 47-Jährige, „Oft kann man so Rückschlüsse auf Materialien und Handwerkstechniken ziehen. Diese Informationen nutzen wir, um unsere Kleidung und Gebrauchsgegenstände historisch genau zu gestalten“. „Wenn man es wirklich genau haben möchte, näht man die Kleidung am besten selber“, sagt Berenike Gilles. „Papa näht eigentlich alles von Hand und Leander hat sich letztens ganz alleine einen neuen Mantel genäht. Momentan arbeitet Papa an einem mittelalterlichen Steckbett. Sogar der Ständer für seine Rüstung ist selbstgebaut!“
Es gibt immer etwas zu tun
Das Mittelalter-Hobby beschränkt sich nicht nur auf die Märkte. „Mein Mann sitzt stundenlang zu Hause auf dem Sofa und näht oder werkelt im Garten und in der Werkstatt“, erzählt Kathrin Lecking, die Frau des Lagerleiters. Sie selbst nimmt nur als Besucherin an den Märkten teil, unterstützt aber das Hobby ihrer Familie. Die Tage kurz vor den Märkten seien immer sehr stressig, berichtet sie. Dann werden noch schnell die letzten Knöpfe angenäht, Löcher gestopft oder Bänke gezimmert. Wenn es dann losgeht, ist die ganze Familie von der mittelalterlichen Unterwäsche über die Rüstung bis zu authentischen Möbeln komplett ausgestattet.
Wenn die Lagerdienste erledigt sind, wird Kleidung geflickt, die Rüstung poliert oder das Inventar ausgebessert. Leander arbeitet im Moment an einem Pfeilhalter für seinen Köcher. Der 16-Jährige besitzt neben seinem Schwert auch einen Langbogen. Er hat Spaß an der Handarbeit und verbringt gerne seine Zeit mit nähen, filzen und Holzarbeiten. Wenn es Zeit ist für eine Pause, gehen er und die anderen Kinder und Jugendlichen des Lagers auf den Markt. „Ich sehe mir die Stände an und unterhalte mich mit den Verkäufern“, erzählt Berenike Gilles, „oder ich setze mich ins Lager und spiele.“ Die 11-Jährige hat einen Beutel mit mittelalterlichen Spielsachen, das sind Jonglierbälle, Murmeln, gefilzte Tiere und ein Holzkreisel. „Wenn ich Zeit habe, fechte ich mit Papa oder schieße mit meinem Bogen auf unsere Strohscheibe“, sagt Leander, „ich sitze aber auch gerne am Feuer.“
Mehr als nur Show
Wenn das Lager Castra Carmensia wie in diesem Jahr an der Soester Fehde teilnimmt, befinden sich die Jugendlichen und Erwachsenen in ihrer Freizeit auf dem Schlachtfeld. Mehrere Tage lang wird die Belagerung von Soest in der Gräfte nachgestellt. Während der Schlacht wird mit Kanonen und Handrohren geschossen. Reiter, Bogenschützen, Schwertkämpfer und Pikeniere kämpfen bei Wind und Wetter. „Wasserträger“ versorgen die Kämpfer in den Gefechtspausen mit Wasser. „Papas Rüstung wiegt insgesamt 25 Kilo“, erzählt Berenike. „Zum Anziehen braucht er sehr lange. Aber wir helfen ihm.“ Und die Rüstung ist nicht nur Show: „Papas Schulterplatten und Helm sind schon ein wenig verbeult“, sagt die 11-Jährige. „Letztens hat ihm ein Gegner währen der Schlacht sogar ein Nestelband durchgeschlagen!“
Mit Herzblut und viel Mühe sind die Heerlager bei der Sache. "Am meisten Freude macht es mir, Interesse und Begeisterung für Geschichte zu wecken", sagt Andreas Gilles, „Geschichte ist nicht nur Zahlen und Daten, sondern der Alltag und das Leben von Menschen. Wie haben sie gewohnt, gegessen, welche Kleidung haben sie getragen, wie gelebt, wie gearbeitet? Unser Hobby macht Geschichte erlebbar, und das lieben wir so daran.“
Autor:Philine Gilles aus Unna |
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