Russland hat den Medienkrieg verloren
WENN BILDER MEINUNG MACHEN...

Gedanken von Stephan Leifeld

Wir leben in Deutschland in einem Rechtsstaat. Es gilt die Unschuldsvermutung bis ein Straftäter wirklich überführt worden ist. Zumindest letzteres funktioniert in der Theorie. In der Realität haben wir nämlich die Zeitung mit den vier Buchstaben - dort kann man schon öffentlich verurteilt werden, ohne kurzen Prozess. Diese Tage ziert eine Titelseite dieses Blattes eine weibliche Hand, am Boden liegend, mit zum Teil knallroten Fingernägeln im Kontrast zum grauen Schotter. Der Ringfingernagel ist silbern mit einem Herzen gestaltet. DIESE BARBAREN ist die Überschrift. Wie für die Regenbogenpresse gemacht, das Bild, denke ich. Der Vorfall selbst ist natürlich abscheulich und nicht zu entschuldigen. Ohne Zweifel ein grausames Verbrechen. Das Foto soll aber mehr bewirken...

Darum drehen sich anschließend meine Gedanken. Dabei muss ich gestehen, bin ich nicht in Versuchung gewesen, das reißerische Blatt zu kaufen. Mir ist klar, dass die in Butscha gefundenen Leichen, aktuell bei vielen Menschen das Meinungsbild nachhaltig prägen werden. Dafür sorgen auch solche Ausschnitte, wie auf der Titelseite, beinahe wie drapiert. Was diese Wirkung angeht, muss ich weiter ausholen, als nur bis Mitte März.

Die Angst vor "dem Russen"

sitzt tief in unserem Land. Seit mittlerweile 80 Jahren haben weite Teile unseres Landes eine schwelende Angst vor Russland. Dafür gibt es Gründe, zum größten Teil in der Vergangenheit. Deutsche sind nach 1945 vor "den Russen" in Scharen geflüchtet, aus Gegenden, die sie kurz zuvor erst besiedeln durften. Dabei hatte man sich doch keine Gedanken darüber gemacht, ob das 1000jährige Reich nicht solange halten würde... und ob man die Quittung bekommen würde, für die Siedlungspolitik von Nazi-Deutschland. Ähnliche Bilder, wie Anfang dieser Woche, gingen damals durch unser Land. Vergewaltigte Frauen und geschändete Kinder, massakrierte Deutsche in Wehrmachtsuniformen. Das muss schlimm gewesen sein. Teilweise geschah es aber auch, auf der Flucht aus dem heutigen Tschechien oder anderen Regionen. Das wurde nicht weiter differenziert, in der öffentlichen Wahrnehmung.

"Der Iwan" wurde zum Synonym für Vergewaltigung, …der "Ami" stand hingegen für chewing-gum und chocolate. Wie schlimm es auf dem Hinweg die Deutschen Eroberer selbst "getrieben" haben, ist weniger bekannt, in Deutschland jedenfalls. Da gibt es allerdings einige Zahlen... nach denen weitaus mehr russische Zivilisten getötet, gefoltert und geschändet worden sind, als Zivilisten aus anderen Ländern.

Ohne Frage wirken die aktuellen Bilder in den Medien zutiefst verstörend, das sehe ich auch so.

Ich will an dieser Stelle auch nicht einmal im Ansatz relativieren, ob damals oder heute mehr Leid geschehen ist. Es ist tatsächlich grausam und zu verurteilen, was in Butscha geschehen ist. ABER, vor einer Verurteilung sollten alle Fakten geklärt sein. Darum geht es mir in diesem Beitrag. Auch wenn die aktuelle Meinungslage eher Wasser auf die Mühlen ist, von russischem Gas lieber zu Gas aus Katar oder sonst wo, wechseln zu wollen. Wir wissen noch nicht, wer diese abscheulichen Gräueltaten wirklich begangen hat. 

Wir Deutsche nehmen insgesamt doch gerne für uns in Anspruch, seit Kriegsende die Zivilisation entdeckt zu haben, könnte man meinen. Haben wir aber nicht. Kolumbus war auch nicht der erste in Amerika - und wir Deutsche ahmen nach, was andere Gesellschaften an Demokratie vorgemacht haben. Die EU steht damit aktuell am Scheideweg, wenn man nach Polen oder Ungarn sieht.
Viel mehr Demokratie als Russland sehe ich persönlich da im Augenblick nicht. 

Viele Juristen im Deutschen Bundestag

sollten aber wissen, dass auch vor einem Tribunal in Den Haag die Rechtsstaatlichkeit vor Politik stehen sollte. Sonst haben wir nicht die Perspektive, andere Staatschefs als undemokratisch, willkürlich und autokratisch zu bezeichnen. Wenn wir selber nicht besser sind. Biden und Obama, Bush und Bush senior, kamen auch vor kein Tribunal - trotz Belgrad, Bagdad oder Tripolis. Es bleibt also abzuwarten, welche Resultate etwaige Ermittlungen in Butscha zu Tage fördern können.

Die aktuelle Forderung von Selenskyj finde ich in diesem Augenblick daher absolut berechtigt. Internationale Spezialisten der Forensik und der Polizei sollten umgehend in die von den Russen geräumte Stadt, um die Hintergründe der offensichtlichen Ermordung der Menschen dort umgehend aufzuklären.

„Die Russen“ streiten den Vorwurf ab, diese Menschen hingerichtet zu haben. Wenn mir auch nicht gleich ein Motiv einfällt, warum sie das getan haben sollten, könnten sie aber ihre Kooperation und ihr Interesse an der Aufklärung beweisen, in dem dieses Gebiet quasi aus den Kriegshandlungen ausgenommen wird, um die Ermittlungen nicht zu behindern.

Vielleicht kommt dann sogar ein Ergebnis zum Vorschein, welches weit von dem abweicht, was die BILD-Zeitung bereits festgelegt hat. Abgesehen von der Barbarei.
Denn das steht fest: Mord und Krieg sind immer Barbarei. 

Zivilisation fängt doch nicht erst an, auf der untersten Stufe, wenn man nur Waffen verkauft, statt sie selbst zu benutzen. Dann ist man ja nicht besser - sondern nur besser situiert - wenn man die Waffen nicht selber benutzt. Deutschland ist sozusagen zivilisierter "Dealer" von veralteten Schützen-Panzern, die zwar nicht nur reine Selbstverteidigungswaffen sind, aber bei den aktuellen Schlagzeilen "heiligt offenbar der Zweck die Mittel" einmal mehr... und man kann anschließend darüber kopfschüttelnd in den Medien berichten, was auch nur zivilisiert wirkt. Mit dem deutschen Zeigefinger aus Bayern nach Russland zeigen, zum Beispiel, um andere Menschen aus der "zivilisierten Völkergemeinschaft" auszuschließen. Nachdem man Generationen ohnehin Angst vor "diesen Russen" gehabt hat.

Damit komme ich gedanklich auch schon zu einem weiteren dünnen Eis in der aktuellen Diskussion:

Anti-Semitismus.

Gil Ofarim ist mutmaßlich nicht Opfer eines antisemitisch motivierten Vorfalls gewesen. Zumindest distanzieren sich RTL und BILD nun öffentlich von dem jungen Künstler, der außerdem noch Jude ist. Ofarim vor etlichen Wochen in Zweifel ziehen, war gaaaaaanz dünnes Eis.

Die Stadt, in der das mutmaßlich passiert ist - der Davidstern als Symbol an der Halskette, die mutmaßlich nicht sichtbar gewesen ist. Der Zeitpunkt, etwas Publicity zu brauchen, für ein neues Programm. Dünnes Eis. Mich hat seinerzeit die Gestik und Mimik an der Version zweifeln lassen, die Ofarim vorgetragen hat. Im Bekanntenkreis war ich dadurch beinahe persona non grata geworden. Schließlich "muss man" einen Juden in Deutschland vor "so etwas" schützen. 

Das ist völlig richtig! Muss man auch.
Null-Toleranz für Anti-Semitismus.

Meine Freunde und Familie kennen mich als engagierten Nazi-Gegner, der in jungen Jahren Mitschüler aktiv verteidigt hat, gegen körperliche Gewalt von Neonazis aus dem Spektrum der sogenannten Wiking-Jugend. Ich lebe gerne in einer diversen Gesellschaft - und lehne nationalstaatliche Tendenzen jedweder Art ab. 

Ofarim hat aber möglicherweise mit seiner Aktion den Juden in Deutschland keinen guten Dienst erwiesen, wenn sich seine Vorwürfe als falsch und haltlos erweisen. Das ist sehr traurig. Vor allem für die Person Ofarim, die in den letzten Monaten danach augenscheinlich sehr gealtert ist. Schlechtes Gewissen nagt womöglich an ihm, oder es ist die Treibjagd der Boulevardpresse.

Eben hier schließt sich dann mein gedanklicher Kreis an diesem Vormittag.

Selenskyj, ein gelernter Komiker und Schauspieler, der den Sturz von Putin medial verkörperte, bevor er dann tatsächlich als Präsident der Ukraine eine Chance erhielt. Aber er ist auch Jude - oder zumindest hat er jüdische Vorfahren, kann man lesen. Deshalb hat Selenskyj gerade auch Israel unter Druck gesetzt, "sein Land" mit zu verteidigen. Das war ungefähr Mitte März, als er ziemlich vor jedem Parlament in Europa und Israel zugeschaltet war. Von Selenskyj kann man in diesen Tagen Bilder sehen, die belegen sollen, wie "alt" er innerhalb eines Monats geworden ist.

Selenskyj droht Kollaborateuren

Selenskyj machte vor etwa einem Monat, am 13. März 2022, für meine Ohren sehr deutliche Aussagen. Geradezu radikal formuliert: Die Tageszeitung MERKUR titelt seinerzeit damit, "Selenskyj greift rigoros gegen Verräter durch". NTV berichtete am selben Tag, "Selenskyj droht Unterstützer Russlands". Tagesschau und Spiegel online berichten seinerzeit auch. Es ging die Nachricht um, "wer die russischen Besatzer unterstützt, unterschreibt das eigene Todesurteil". Der ukrainische Präsident bezeichnet damit Zivilpersonen, die mit Russland kollaborieren, als Menschen, die "12.000 getöteten Russen folgen werden". 

Ehrlich gesagt, kommt mir das dann in den Sinn, wenn ich den deutlich gealterten Präsidenten der Ukraine sehe. Ohnmacht, Wut und Hass. Enttäuschung über leere Versprechen vermeintlicher Bündnispartner. Die Realität. Dann der "Verrat" durch "eigene Leute". Was wäre, wenn nicht reguläre russische Soldaten dieses Massaker angerichtet haben, bevor sie ordentlich umgruppiert wurden und in aller Ruhe die Stadt verliessen? Wie steht er dann da? Und das vor Ostern…

Butscha klingt international für mich auch zu sehr nach Butcher... als das die Lösung der Frage nach den Verbrechern dort, so einfach wäre, wie das Lesen von Großbuchstaben unter einem schrecklichen Foto. Bilder sollten deshalb keine Meinung machen. Wir tun ebenfalls gut daran, nicht alles durch farbige Brillen zu betrachten - um nicht vorschnell falsche Schlüsse zu ziehen, die womöglich falsche Entscheidungen und fehlerhafte Handlungen verursachen. 

Wenn russische Soldaten für diese Tat verantwortlich sind, sollen sie zur Rechenschaft gezogen werden. Waren es andere Täter, ist es besser, keine Vorurteile zu Urteilen werden zu lassen. Auch diese sollen ihre Strafe dann erhalten.

.

Autor:

Stephan Leifeld aus Schermbeck

Webseite von Stephan Leifeld
following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

17 folgen diesem Profil

1 Kommentar

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.