Revanchismus und Angst sind schlechte Ratgeber
DER „BÖSE RUSSE“ IST TOT
Meinung von Stephan Leifeld
Michail Sergejewitsch Gorbatschow * 2. März 1931 in Priwolnoje, Russische SFSR; ist am 30. August 2022 in Moskau verstorben. Von März 1985 bis August 1991 ist der Mann mit dem feuerroten „Sylt“ auf der Glatze, Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und von März 1990 bis Dezember 1991 Staatspräsident der Sowjetunion, gewesen. Das Feuermal war eines seiner Markenzeichen. Viel wichtiger ist jedoch sein Verständnis von Politik: Neue Akzente in der UdSSR setzte dieser charismatisch-ruhige Staatschef mit Glasnost (‚Offenheit‘), einem Bekenntnis zur Meinungsfreiheit, und Perestroika (‚Umbau‘), insbesondere mit der Abschaffung der Planwirtschaft. In Abrüstungsverhandlungen mit den USA leitete vor allem er das Ende des Kalten Krieges ein. Er erhielt 1990 den Friedensnobelpreis. Viele Menschen sehen ihn als „Totengräber der Sowjetunion“, ebenso viele Menschen schätzten diesen Staatsmann für sein Engagement für den Weltfrieden. Es war nicht David Hasselhoff, der dafür sorgte, die „Berliner Mauer“ zu öffnen, damit sie anschließend eingerissen werden konnte. Gerade wir Deutschen haben diesem Russen unendlich viel zu verdanken… Gorbatschow war nicht „böse“.
Am Wochenende wurde Michail Sergejewitsch Gorbatschow beigesetzt. Kein Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland ist nach Moskau geflogen, diesem großen Mann die letzte Ehre zu erweisen. Auch andere Staatsgäste sind nicht gekommen, sogar Putin hat seinem großen Vorgänger diese Geste verweigert. Ich finde das in diesen Tagen mehr als traurig. Offenbart es doch, wie sehr „alle Russen“ im Augenblick über den sprichwörtlichen Kamm geschoren werden. Die oberste Diplomatin von Deutschland, die Außenministerin, ist nicht nach Moskau geflogen; ebensowenig der Bundespräsident oder der -Kanzler. Und Putin hätte sich offiziellen Gästen weniger entziehen können, als nun in der politischen Isolation.
„Neu beginnen kannst Du mit dem letzten Atemzug“, sagte einst Bert Brecht. Ich hätte, wäre ich verantwortlich für die Außenpolitik unserer Republik, diese Gelegenheit genutzt. Der Tod von Gorbatschow hätte, wie beim Tod im Tarot, für Veränderung stehen können. Eine Chance, beim Leichenschmaus über Frieden zu sprechen. Das Begräbnis dieses großen Mannes als Staatsakt erhoben, auch gegen die russischen Revanchisten, die sich zur Großmacht zurücksehnen. Gerade für den Weltfrieden haben Scholz, Baerbock und Steinmeier eine Großchance liegen lassen.
Bertolt Brecht soll auch einmal gesagt haben, dass man die Deutschen in zwei Gruppen unterteilen könnte: die einen Deutschen fühlen sich besiegt, durch das Ende des zweiten Weltkriegs, wiederum andere Deutsche würden sich als befreit betrachten. Damit können wir m.E. in diesen Tagen auch erkennen, warum so viele Menschen in unserer Gesellschaft so leicht glauben, dass der Krieg zwischen der Ukraine und Russland, eine einseitige „Sache“ ist.
Unsere Gesellschaft hat aus meiner Sicht auch wenig gelernt in Sachen Anti-Semitismus. Das ist inzwischen aber bekannt. Gleichzeitig schwelt immer noch, eine tief sitzende Angst und Wut, was den „bösen Russen“ angeht. Die Rote Armee ist in Deutschland einmarschiert und hat im Mai 1945 damit einen großen Anteil am Ende des II. Weltkriegs. Zuvor haben zahlreiche ukrainische Soldaten an der Seite der Wehrmacht, Angst und Schrecken auf dem Gebiet des heutigen Russlands verbreitet. Auch an den Schäden, die Polen in diesen Tagen beziffert hat, was die Gräuel der Nazi-Zeit angeht, sind ebenfalls die Azow-Brigaden und andere ukrainische Einheiten beteiligt gewesen. Opportun, in diesen Tagen, ist das natürlich nicht, wenn man dieses Schwarz-Weiß-Denken von BILD und Baerbock nicht unkritisch mitmacht…
Das Atomkraftwerk in Saporischschja ist seit Ende Februar diesen Jahres durch die russische Armee besetzt. Die ukrainischen Techniker konnten das Kraftwerk weiter betreiben. Seit der Zeit der Lieferungen westlicher Waffen an die Ukraine, häufen sich die Meldungen von Beschuss auf das AKW - welches gleichzeitig das größte in Europa sein soll. Russen werden dabei kaum ihre eigenen Einheiten beschiessen. …Europa bedroht sich m.E. also gerade selbst, in dem Waffen für den Beschuss geliefert werden, mit dem dann die Ukraine versucht, das AKW zurück zu erobern. Gestern noch hat der ukrainische Präsident den Deutschen versprochen, Atomstrom zu liefern, damit Deutschland unabhängiger von Russland werden kann. Tschernobyl als Erfahrung in den 80er Jahren war ja nicht genug. Da gab es die autonome Ukraine ja noch nicht. Das konnte man seinerzeit den Sowjets „anhängen“, also für wenig differenzierende Deutsche „waren das die Russen“.
Die Chefdiplomatin der Bundesrepublik hat es auch so mit Versprechern, Pardon, Versprechungen. In Prag hat die Möchtegern-Kriegsministerin zum Einen signalisiert, dass sie sich eine Lösung des Krieges zwischen Russland und der Ukraine mit ihren Unterstützern am Verhandlungstisch derzeit nicht vorstellen kann. Stattdessen hat Baerbock ihr Versprechen bekräftigt, was die Unterstützung der Ukraine mit Waffenlieferungen angeht. Dabei hat sie deutlich gesagt, dass ihr egal ist, was ihre Wählerinnen und Wähler denken. Niemand legte es der Politikerin in den Mund. Englisch sollte sie beherrschen, nach einem Jahr an einer Hochschule in London.
Es passt weiter ins BILD, wenn in der Ukraine nun sämtliche Straßennamen geändert werden - und öffentliche Gebäude neue Namen erhalten. Ukrainische Nationalhelden verdrängen nun historische Persönlichkeiten gemeinsamer Wurzeln beider Staaten. Ich bin Jahrgang 1967, weshalb ich mich daran erinnern kann, wie der eingangs erwähnte Gorbatschow 1991 die Ukraine aus der Union der sozialistischen Sowjet-Republiken entlassen hat: allerdings unter vereinbarten Auflagen.
Bis 2004 wechselten schließlich fast alle ehemaligen Mitgliedsstaaten des damaligen Warschauer Pakts die Seite und wurden NATO-Mitglied. Einige kamen über den Beitritt in die EU dann im nächsten Schritt. Russland wurde bis 2014 völlig isoliert. Aus den Grenzregionen der heutigen Ukraine kam es immer wieder zu paramilitärischen Aktionen gegen die russische Bevölkerung auf der Krim. Seit 1997 hatte die NATO mit der Ukraine zusammen trainiert, in großen Manövern, wie der „böse Russe“ mit großen Waffenarsenalen und riesigen Mengen an Soldaten in Schach zu halten wäre. Die Krim wechselte dann die Staatenzugehörigkeit über Nacht - ohne Blutvergießen. Steinmeier und Merkel pflegten die gesamte Zeit einen konstruktiven Dialog mit Putin.
Eine Annäherung „beider Welten“ war zum Greifen nah, als plötzlich auch mit der Rückkehr von Friedrich Merz die transatlantischen Denkfabriken in Deutschland wieder das sprichwörtliche Oberwasser bekamen: Nordstream II wurde abgelehnt - lange vor der Eskalation durch den völkerrechtswidrigen Angriff der Russen auf das Staatsgebiet der Ukraine. Gorbatschow warnte damals noch deutlich davor, die Ebene von Gesprächen und Verhandlungen zu verlassen.
Ich bin sehr traurig über den Verlust eines Fürsprechers für den Frieden und Verständigung. Wäre ich Bundespolitiker, wäre ich in den letzten Tagen in Moskau gewesen - Danke zu sagen, für die Freiheit und Wiedervereinigung unseres Landes. Gleichzeitig hätte ich den Dialog gesucht, für die Aussöhnung dieser beiden russischen Völker. Für mich gibt es keinen „Bösen Russen“. Ukrainer sind für mich auch keine Besser-Russen.
„Arschlöcher“ gibt es überall auf der Welt. Ebenso wie gute Menschen…
Autor:Stephan Leifeld aus Schermbeck | |
Webseite von Stephan Leifeld |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.