Die Hamburger Nachrichten berichteten nach 1945:
"Man hängte sie an Haken, wie Bilder an die Wand."
Immer wenn ich derartige Geschichten lese oder höre, bin ich total betroffen. Diese Betroffenheit will ich heute weitergeben. Einerseits möchte ich dieses Gefühl weitergeben, weil es aus meiner Sicht zeigt, dass wir alleine uns nicht so wichtig nehmen dürfen. Wir müssen immer wieder die Augen für andere Menschen offenhalten. Andererseits möchte ich dieses Gefühl weitergeben, weil ich immer daran denke, dass Faschismus zu jeder Zeit eine lauernde Gefahr - ein schleichendes Gift - in unserer Gesellschaft ist. Das nachstehende Andenken zeigt, zu welchen Taten Faschismus führt.
Gegen Kriegsende führt der SS-Arzt Dr. Kurt Heißmeyer Tuberkulose-Versuche an Häftlingen durch. Im Konzentrationslager Neuengamme, Außenstelle Bullenhuser Damm, bei Hamburg. Im November 1944 lässt dieser "Arzt" insgesamt zehn Jungen und zehn Mädchen aus dem KZ Auschwitz überstellen. Sie sind zwischen 5 und 12 Jahren alt. Als menschliche "Versuchskaninchen" braucht er sie.
Wenn man überhaupt von Betreuung sprechen kann, unter diesen Umständen, war das die Aufgabe von zwei französischen Häftlingsärzten und zwei niederländischen Häftlingspflegern. Die vier Erwachsenen hatte man zuvor als Widerstandskämpfer inhaftiert.
Am 20. April 1945 kommt es so in der Nähe der Hansestadt zu einem Verbrechen, das noch einmal das ganze unfassbare Grauen des "Tausendjährigen Reiches" vor Augen führt. Englische Truppen haben bereits Harburg besetzt und stehen nun vier Kilometer vor Hamburg. Und die SS beschließt die Kinder vom Bullenhuser Damm zu "beseitigen". Die barbarischen Menschenversuche, die man an den 20 Kindern verübt hat, sollen vertuscht werden.
So berichten später die Hamburger Nachrichten am 25. Juli 1946 über diesen abscheulichen Kindermord: "Es wurde ihnen ein Strick um den Hals gelegt, und sie wurden an Haken wie Bilder an der Wand aufgehängt."
Zu verbergen, welche "medizinischen" Versuche an den den Kindern vorgenommen wurden, ermorden SS-Männer die Kinder und ihre vier Betreuer: Wenige Tage vor Kriegsende werden sie in eine zuletzt als KZ-Außenlager genutzte Schule am Bullenhuser Damm im kriegszerstörten Stadtteil Rothenburgsort gebracht und dort in der Nacht des 20. April 1945 im Keller ermordet. In derselben Nacht werden dort mindestens 24 weitere KZ-Häftlinge ebenso erhängt.
Die Kinder sind an dem Abend schon im Bett, schlafen bereits. Da werden sie wieder geweckt, muss man sich vorstellen. Die SS-Leute sagten ihnen, sie würden jetzt mit einem Flugzeug zu ihren Eltern gebracht. Die Kinder - wie erwähnt, im Alter zwischen 5 und 12 Jahren, - freuen sich sehr und packen ihr Spielzeug ein, das Mitgefangene ihnen gebastelt hatten: Holzautos, Puppen, Eisenbahn. Im großen Postwagen sitzen bereits sechs russische Gefangene, als die Kinder einsteigen und mit ihnen die Pfleger Anton Hölzel und Dirk Deutekom nebst den beiden Professoren. Dann steigen drei SS-Männer zu, halten einige Stricke in Taschen bei sich. Vorne beim Fahrer sitzt noch der KZ-Arzt Alfred Trzebinski, dessen Aussage vor Gericht, ein Jahr nach dem Krieg, etwas Licht in die dunkle Geschichte dieser Tage bringen wird.
In der Schule angekommen, werden die Kinder und die Erwachsenen, getrennt in zwei Keller geführt. Laut Aussage von Dr. Trzebinski kommt später auch Obersturmführer Arnold Strippel, der die Mordaktion leitet. In dem einem Keller ziehen schließlich die SS-Männer Stricke mit Schlingen über die Heizungsrohre. Zwei der erwachsenen Gefangenen müssen zugleich auf eine Bierkiste steigen. Man legt ihnen die Schlingen um den Hals, und zieht die Bierkiste wieder weg. Die Erstickenden schlagen mit Händen und Füßen um sich, es dauerte mehrere Minuten, ehe sie tot sind. Etwa drei Stunden später liegen 28 Tote im Keller, darunter auch die Leichen der inhaftierten Widerstandskämpfer.
Schließlich sind auf der anderen Kellerseite die Kinder ebenso umgebracht worden.
Trzebinski schreibt etwa ein Jahr später in seinem Geständnis:
"Ich hatte Morphium mit. Ich rief einzeln ein Kind nach dem anderen. Sie legten sich über den Schemel, und ich gab ihnen die Spritze ins Gesäß, wo es am schmerzlosesten ist. Damit die Kinder glaubten, dass es sich um eine Impfung handelte, habe ich immer wieder eine neue Nadel genommen."
Einer der Mörder, SS-Soldat Johann Frahm, wird schließlich ungeduldig, wegen der angeblichen Impfung der Kinder. Frahm beginnt mit dem Erhängen der Kinder, obwohl diese teilweise noch wach sind. Einzeln greift er ein Kind nach dem anderen, um in einem anderen Kellerraum für seine grausame Tat zu verschwinden.
So gesteht Trzebinski bei seiner gerichtlichen Anhörung weiter:
(...) "Frahm nahm einen zwölfjährigen Jungen auf den Arm und sagte zu den anderen, "er wird jetzt ins Bett gebracht". Er ging mit ihm in einen Raum und dort sah ich schon eine Schlinge an einem Haken. In diese Schlinge hängt Frahm den Knaben hinein und hängt sich mit seinem Körpergewicht an den Körper des Kindes, damit die Schlinge zuzog." (...)
Als Vater von Kindern, teilweise im Alter der Kinder vom Bullenhuser Damm, hat mich diese Geschichte um diese Tage herum, immer sehr bewegt. Ich möchte mit diesem Text ganz sicher keine schlechten Gefühle verbreiten - aber erinnern sollen wir uns alle dennoch, auch in solchen Zeiten wie jetzt, was alles möglich ist, wenn wir Menschen nicht genau hinsehen und aufpassen, was mit unserer Gesellschaft geschieht.
Die Namen der 20 ermordeten jüdischen Kinder möchte ich abschließend auch noch mitteilen, ohne deren nationale Herkunft, weil aus meiner Sicht das keine Rolle spielt:
Mania Altmann, 5 Jahre,
Lelka Birnbaum, 12 Jahre,
Riwka Herszberg, 7 Jahre,
Alexander Hornemann, 8 Jahre,
Eduard Hornemann, 12 Jahre,
Marek James, 6 Jahre,
Walter Jungleib, 12 Jahre,
Surcis Goldinger, 11 Jahre,
Lera Klygermann, 8 Jahre,
Georges André Kohn, 12 Jahre,
Bluma Mekler, 11 Jahre,
Jacqueline Morgenstern, 12 Jahre,
Eduard Reichenbaum, 10 Jahre,
Sergio de Simone, 7 Jahre,
Marek Steinbaum, 10 Jahre,
H. Wassermann, 8 Jahre,
Eleonora Witónski, 5 Jahre,
Roman Witónski, 7 Jahre,
Roman Zeller, 12 Jahre,
Ruchla Zylberberg, 10 Jahre,
Die „Gedenkstätte Bullenhuser Damm und Rosengarten für die Kinder vom Bullenhuser Damm“ erinnert heute noch mit einer kleinen Ausstellung an die Opfer dieses Verbrechens. Diese Gedenkstätte ist seit 1980 auf private Initiative durch die Vereinigung „Kinder vom Bullenhuser Damm“ eröffnet worden. Seit 1999 ist sie in städtische Trägerschaft übernommen und der KZ-Gedenkstätte Neuengamme angegliedert.
Die 2011 neu eröffnete Dauerausstellung (deutsch, englisch) informiert über den Ort als Schule und als Außenlager des KZ Neuengamme, über die medizinischen Experimente, die Opfer, die Morde, die Täter und den Umgang mit dem Verbrechen nach 1945. Im Rosengarten hinter dem Schulhof können Rosen zum Gedenken an die Ermordeten gepflanzt werden. Seit 1985 erinnert dort auch eine beeindruckende Bronzeplastik von Anatoli Mossitschuk an die unbenannten sowjetischen Häftlinge.
Infolge der Corona-Krise in diesem Jahr hat es gestern nur eine sehr kleine Gedenkveranstaltung in Hamburg gegeben. Ich hoffe, Euch virtuell ein bisschen mitgenommen zu haben, an den Bullenhuser Damm...
Dass wir alle niemals vergessen!
#weremember
Autor:Stephan Leifeld aus Schermbeck | |
Webseite von Stephan Leifeld |
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