Solange es Schlachthäuser gibt, wird es Schlachtfelder geben...
Heute kommt Dagobert in die Röhre
Nebel zieht auf, man kann kaum sprichwörtlich die eigene Hand vor Augen sehen. Richtung Küste sieht es aus, als hätte jemand die Waschküche aufgelassen. Es ist herbstlich kalt - irgendwo zwischen Caen und Rouen. Einzelne Kampfverbände deutscher Wehrmacht belauern die französischen Truppen. Hitler hat den Westfeldzug angeordnet. Szenen, wie unsere Generation nur aus martialischen Rambo-Filmen kennt, spielen sich ab - allerdings nicht mit Film- sondern echtem Blut. Deutsche Vorposten ziehen ihre langen Dolche, um Wachtposten hinter den feindlichen Linien zu ermorden. Eine Hand zum Verstummen des Gegners, die andere Hand führt die Klinge. Die Maginot-Linie ist umgangen. Viele Menschen müssen in der Folge sterben. Der II. Weltkrieg eskaliert nun auch auf der anderen Seite.
Die Federn fliegen. Dagobert hat es bereits hinter sich, wie man so sagt. Ein sauberer Schlag und der Ente ist der Kopf vom Körper getrennt. Die Daunen sind auch schon ab. Frisch gerupft liegt Dagobert nun auf dem Schoß der Oma. Gekonnt hatte sie ihn "küchenfertig" gemacht, damit der erwachsene Sohn und die Schwiegertochter das nun lernen. Die Beiden wollen schließlich Selbstversorger sein. Tiere selber töten, Fell abziehen oder rupfen, ausnehmen, gehört eben dazu. Es gehört aber auch dazu, diese Tiere vorher artgerecht zu halten, zu versorgen und zu füttern. Manchmal werden eben diese Tiere, bevor sie im Topf oder Backofen "landen", auch noch eine Zeit sozialisiert: sie werden Familienmitglieder. Bekommen Namen. Wie Dagobert oder Mucki. Je nachdem.
Als ich Ende der 80er Jahre den Kriegsdienst an der Waffe verweigert habe, hatte ich Gewissensgründe. Meine Bildung und meine Sozialisierung hatte mich geprägt, nicht für veräußerliche Güter einem anderen Menschen das Leben nehmen zu wollen. Zuvor sind junge Männer meines Alters noch gefragt worden, ob sie auch eine Hinrichtung oder Vergewaltigung nahestehender Menschen quasi hinnehmen würden. Ich musste zu dieser Frage nichts mehr sagen. Ich habe schließlich beinahe zwei Jahre Zivildienst in der Altenpflege abgeleistet. Dort, so war meine Idee, würde ich Gitarre spielen oder Rollstühle mit Senioren durch den Park schieben. Pflegenotstand ist allerdings keine Vokabel aus diesen Tagen, sondern ist auch schon in den 80ern Realität. Dennoch habe ich "meine Menschen" dort persönlich kennengelernt, sind sie für mich nicht nur der Dekubitus auf Zimmer 33 beispielsweise, oder die Inkontinenz auf 35.
Robert K. ist einer von ihnen gewesen. Er hat die lange Klinge mit dem schwarzen Griff geführt. Jung, dynamisch, überzeugt von der Mission seines Führers, hat er so manchen Sohn, Cousin, Vater, Onkel, französischer Herkunft getötet. Er hat nicht verstanden, was die Männer nach dem Stich noch versucht haben, zu sagen. Französisch ist ihm bis nach dem Krieg ein fremder Kauderwelsch geblieben. Töten, um nicht selbst getötet zu werden. Morden, weil man nicht gewusst hat, dass es Mord ist. Möglichst keinen Gedanken an die Tat zu verschwenden. "Auf dem Schlachtfeld geht es schnell, dann lebst Du - oder eben nicht mehr". So ähnlich hat er mir - dem Kriegsdienstverweigerer - das erklärt.
Ich bin in seinem Alter, als Zivi, in dem Alter, in dem er mehrfach im Auftrag des Führers, Menschen umbringt. Meine zweite Fremdsprache an der Schule, ist Französisch gewesen. Gelernt, bei einer gebürtigen Französin, die in Deutschland ihre Liebe finden konnte, um eine Familie zu gründen.
Auch Robert K. hat das möglich gemacht. Nach dem Krieg geläutert durch das Bewusst werden seiner Taten, hat er den Stolz darauf verloren. Sein privates Vermögen hat er anschließend eingesetzt, weil ihm der Reparatur-Dienst in einer deutsch-französischen Einheit - infolge Friedensbemühungen von Adenauer und De Gaulle nicht genügen. Robert K. lernt Französisch. Jahrelang geht er nach Frankreich zur Wiedergutmachung. Ist wohltätig. Seine spätere Gicht, sein Rheuma, die ganzen Erkrankungen, die ihn am Ende wie ein kleines Fragezeichen in einen Rollstuhl zwingen, betrachtet er als gerechten Ausgleich seiner Schuld. Nicht einmal mehr selbstbestimmt urinieren ist ihm möglich.
Ich nehme einen großen Schlüsselring, ziehe meine Schlüssel ab, um den Ring dann mit dem Zipper von seinem Reißverschluss an der Hose zusammen zu bringen. Dann hole ich eine Urinflasche. Robert K. kann ab dem Tag auf den Katheder verzichten. Seine schwere Rechte schiebt er ab da mit der Linken in den Ring, lässt die Hand fallen, der Reißverschluss ist auf. Der Rest geht ab sofort auch wieder selbst. Die Menschenwürde ist zurück. Robert K. wird redselig.
Bis der Mann stirbt, ist mein Ersatzdienst nicht zu Ende. Ich kann noch lernen, was Robert K. als Jüngling erlebt hat - und höre jeden Tag intensiv zu. Vom Kriegsende erzählt er mir auch, wie er in Gefangenschaft mit den anderen jungen Männern im Lager "so ziemlich alles gejagt hat, was Essbar gewesen ist...". Namen haben die Tiere nicht mehr bekommen, es war auch egal, ob Mucki, Dagobert oder Maunzi. Einzig der Hunger hat gezählt.
Dann denke ich an die Schweine- und Rinderhälften bei Tönnies. Menschen essen jeden Tag Fleisch, obwohl die meisten von ihnen vermutlich nicht dazu in der Lage sind, diese Tiere sehend zu töten. Bei Mucki & Co hört es bei vielen Menschen auf. Dafür sehen sie es ja nicht - im Schlachthof. Können sich anschließend bei Gänseleber und rotem Wein aus Frankreich, darüber aufregen, wozu ANDERE fähig sind. Menschen, wie Herr K. oder Herr T.. Mir kommt dann ein Buch von Boris Vian in den Sinn. DER HERZAUSREISSER.
Schließlich landen meine Gedanken bei Tolstoi. Seine Erkenntnis ist magisch zeitlos: Solange es Schlachthäuser gibt, wird es Schlachtfelder geben.
Menschen kaufen Land, auf dem und für das andere Menschen gestorben sind. Menschen kaufen Fleisch, von dem sie weder das Tier kennen, noch den Weg bis auf den Teller nachvollziehen möchten. Menschen teilen nur noch in sozialen Medien, nicht mehr - wie Sankt Martin - tatsächlich das bisschen, was sie haben. Im Gegensatz zum Herzausreißer wollen sie es allen in ihrem Umfeld recht machen. Werden dadurch beliebig und "Everybody's Darling". Aber kennen sie einen Menschen nicht, sprechen nicht seine Sprache, ist es egal, ob diese Menschen im Mittelmeer ertrinken oder von deutschen Waffen im Ausland getötet werden. Dabei könnten wir in Zeiten von Corona endlich zur Besinnung kommen, hinter unseren Masken unsere Gesichter behalten. Beim Metzger im Dorf einkaufen, im Viertel das Brot, den Fremden grüßen, Teilen und recyceln, lernen, verzeihen, kommunizieren. Tiere halten und Tierwohl fördern. Unsere Alten fragen, wie das geht, mit dem eigenen Gemüse und dem eigenen Fleisch... die Bauern verstehen lernen, statt Spargel aus Peru zu beziehen. Der Fleisch- und Rüstungsindustrie die Blind- und Taubheit verweigern...
Wir müssen es nicht allen Menschen recht machen, aber auch nicht billig!
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Autor:Stephan Leifeld aus Schermbeck | |
Webseite von Stephan Leifeld |
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