Ein (fast) normaler Schultag eines Gutmenschen

Es war fast so wie immer, an einem gewöhnlichen Mittwochmorgen um 7 Uhr. Er sitzt in seinem selbst gestrickten Pulli am Tisch und isst sein selbst zubereitetes Müsli. Die Welt ist in Ordnung. Mit seinen langen Haaren und dem Bart sieht er aus wie der Almöhi, nur dass seine Haarfarbe rotbraun ist. In 20 Minuten geht es zur Arbeit, denn es sind keine Ferien. Dann radelt er zur Schule, der Gutmensch, Friedbert Langenbacher-Hutzelmann. Den Doppelnamen hat er seit seiner Heirat. Elke Langenbacher, eine Feministin, wollte anfangs nicht heiraten. Aber sie gab dann doch unter der Bedingung nach, dass Friedbert den Doppelnamen trägt. Obwohl Friedbert gerne lang und breit diskutiert, und dafür bekannt, ja berüchtigt ist, willigte er nach kurzer Zeit ein. Friedbert und Elke kennen sich seit ihrem Lehramtsstudium. Er studierte Sozialwissenschaft und Biologie, sie machte ihr Studium in Sozialwissenschaft und Erdkunde. Damals waren beide schon sehr aktiv. Sie klebten Aufkleber ans Rektorat, Dekanat und sämtliche Unitoiletten und erklärten diese Räume zu atomwaffenfreien Zonen. An zahlreichen Demos gegen Atomwaffen, Atomstrom, für Umweltschutz und Ähnliches nahmen sie teil. Heute sind beide Lehrer an der gleichen Schule. Wie gesagt, es ist fast so wie immer, denn Elke ist mit ihrer Klasse 9 b auf Klassenfahrt.

In der Schule angekommen merkt Friedbert, dass sein Kollege Werner Gerwin nicht da ist. Zunächst freut sich Friedbert darüber, denn mit Werner streitet er sich häufig. Werner Gerwin unterrichtet Mathematik und Physik und ist Befürworter der Atomenergie. ‚Der Tag scheint friedlich zu verlaufen‘, denkt Friedbert. Doch da teilt die Schulleiterin, Ingrid Möllenbrink, Friedbert mit, dass er in seiner Freistunde nach der ersten großen Pause Herrn Gerwin vertreten muss. Das Fach ist Mathematik und auf dem Lehrplan der 10. Klasse steht Wurzelziehen. Die Aufgaben von Herr Gerwin liegen auch bereits in Friedberts Fach. Friedbert ärgert sich darüber. Ausgerechnet Mathematik, wo es exakte Lösungen gibt. Er dagegen liebt Diskussionen. Aber wie heißt es doch: Einen guten Lehrer erkennt man daran, dass er auch fachfremd unterrichten kann. Außerdem kann er auf diese Weise punkten. Nach dem Friedbert die ersten beiden Stunden routiniert absolvierte, kommt es in der großen Pause zwischen ihm und Sylvia Weingärtner zu einer heftigen Diskussion. Sylvia unterrichtet eine seltene Fächerkombination – Chemie und Sport. Im Laufe der Diskussion regt sich Friedbert darüber auf, dass Chemie zu den Naturwissenschaften gerechnet wird. Natur ist für ihn positiv besetzt, wie Biologie und Ökologie. Chemie dagegen ist Gift. Sylvia scheint ihm zunächst Recht zu geben, als sie sagt, dass chemische Waffen schrecklich sind. Aber im gleichen Atemzug nennt sie biologische Waffen viel schlimmer. Friedbert ist daraufhin sprachlos, was bei ihm selten vorkommt. Das Schellen rettet ihn. Nun muss er in der 10 a Vertretungsunterricht in Mathematik machen.

Als Friedbert die Klasse betritt, gibt es ein großes Gekreische. Nach dem Friedbert die Klasse begrüßt und darüber informiert, dass er Mathematik machen wird, bleibt der Lärmpegel immer noch hoch. Friedbert beginnt mit Regel Nummer 1: Fange mit einer leichten Frage an. „Wie viel ist die Wurzel aus 64, lasst uns darüber diskutieren?“ fragt er. Julia, die Klassenbeste meldet sich. Friedbert aber weiß, dass nach Regel Nummer 2 ein erfahrener Pädagoge nicht die besten Schüler zuerst dran nimmt und ignoriert Julia. Die schwächeren Schüler sollen Erfolgserlebnisse haben und er braucht sich nicht so viele Aufgaben ausdenken. Also fragt er Sven, der lustlos auf dem Stuhl wackelt. „Ich hab kein‘ Bock“, antwortet Sven. „Auch ich habe wenig Lust auf Mathematik“, erwidert Friedbert, „aber dennoch hätte ich von dir eine sachlich qualifiziertere Antwort erwartet anstatt dieses vulgäre Gerede.“ „Nun gut. Das Interesse am Radizieren von rationalen Zahlen konvergiert bei mir gegen Null“, gibt Sven zur Antwort. ‚Warum nicht gleich so‘, denkt Friedbert und ist mit der Antwort höchst zufrieden. Nach dem er Klaus dran nahm, antwortet dieser auf die Frage „23,9?“ Friedbert zieht die Augenbrauen hoch und bemerkt „Eine höchst kreative Antwort, aber leider falsch.“ „6,45“, ruft Kai in die Klasse als Antwort. „So bitte nicht! Nicht in die Klasse rufen, auch wenn wir uns dem Ergebnis nähern“, entgegnet Friedbert. Als nach einer viertel Stunde immer noch keiner die richtige Lösung nennt, platzt Julia der Kragen. „Die richtige Lösung ist +8 und –8, Herr Langenbacher-Hutzelmann!“ ruft sie in die Klasse. Daraufhin empört sich Friedbert: „Julia, erstens meldet man sich und dann antwortet man erst, wenn man dran genommen wird!“ Nach einer Diskussion über die Rollenverteilung von Lehrern und Schülern und das Verhalten im Unterricht geht die Stunde zu Ende. Danach hat er Sozialwissenschaften in der Klasse 9 a. Hier kann Friedbert mit den Schülern nach Herzenslust diskutieren.
In der zweiten großen Pause haben Friedbert und Sylvia auf dem Schulhof Aufsicht. Da sieht er, wie Torsten, der vor einem Jahr von der Schule flog, sich mit Ahmet schlägt. Schon damals war Torsten Skinhead und Neonazi. Friedbert versuchte mit Diskussionen ihn vom rechten Lager auf den rechten Weg zu bringen, hatte aber keinen Erfolg. Sofort schreitet Friedbert zwischen die beiden Kontrahenten, doch bevor er eingreifen kann, trifft ihn Torstens Faust auf die Nase. Friedbert fällt nach hinten. Als Torsten weitermachen will, kommt Sylvia Weingärtner dazwischen und tritt ihm kräftig in die Hoden. Der Skinhead krümmt sich vor Schmerzen. Sylvia packt Torsten in den Polizeigriff und führt ihn ins Lehrerzimmer. Friedbert wischt sich das Blut von der Nase. Zwei Schüler helfen ihm beim Aufstehen. Obwohl Friedbert jede Form von Gewalt ablehnt, imponiert ihm doch die Art und Weise, wie Sylvia die Auseinandersetzung schnell beendete. Als er mit den Schülern Richtung Lehrerzimmer folgt, denkt er ‚Eigentlich ist Sylvia nett. Ja, sie ist attraktiv und hübsch, nicht nur für eine Chemielehrerin, sondern überhaupt. Andererseits, was ist, wenn sie meine langen Diskussionen auf die gleiche kurze aber schmerzhafte Weise beendet wie diesen Vorfall auf dem Schulhof? Außerdem bestehen einige unüberbrückbare Hindernisse zwischen uns. So ist sie keine Vegetarierin. Eine Symbiose ist daher nicht möglich. Wahrscheinlich ist es besser so.’
Für Friedbert geht der Arbeitstag vorzeitig zu Ende. Dennoch wurde viel gelernt, auch von ihm. Übrigens, sollten Sie Friedbert treffen, dann grüßen Sie ihn von mir. Seien Sie bitte nett zu ihm. Er hat einen schweren und wichtigen Beruf wie seine Kollegen.

Autor:

Ewald Zmarsly aus Recklinghausen

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