Wilhelm Neurohr: Der politisch denkwürdige Juni 2018
Welch ein aufwühlender politischer Monat, so ist zum Sommeranfang am 21. Juni 2018 festzustellen, zeitgleich mit der Bilanz der deutschen Koalitionsregierung, die genau 100 Tage im Amt ist. Selten war das Politikversagen weltweit so dramatisch wie in diesem denkwürdigen Monat, manches kaum wahrgenommen im Schatten der kommerziellen Fußball-WM. Dabei ist der Monat Juni noch nicht zu Ende und wird noch mancherlei mehr an politisch Skandalösem darbieten in diesem politisch heißen Sommer:
Asylpolitik
Während die Diskussionen um die Zurückweisung von Asylsuchenden und Kriegsflüchtlingen in Deutschland zu einer anhaltenden Regierungskrise führen, geht es im Juni auf dem europäischen Sondergipfel zur Migrationspolitik - 100 Tage vor dem interkulturellen „Tag des Flüchtlings“ - vorrangig um die beschämende Frage, ob inhumane Flüchtlingspolitik national oder europäisch organisiert wird, entgegen dem internationalen Recht und den allgemeinen Menschenrechten.“Diese ganze Debatte ist auf eine Weise verroht, die ich erschreckend finde“, kommentiert der grüne Europa-Abgeordnete Sven Giegold. Zuvor hatten Italien und Malta 629 Flüchtlinge an Bord des Rettungsschiffes „Aquarius“, darunter schwangere Frauen und Kinder, zurückgewiesen, bis sich Spanien erbarmte, sie 1500 km weiter, in Valencia, an Land zu lassen.
Flüchtlingsdrama
Zur gleichen Zeit verkündet der UN-Flüchtlingshochkommissar den traurigen Rekord, wonach durch Krisen und Konflikte in der Welt noch nie so viele Menschen auf der Flucht gewesen sind: Über 16 Millionen Menschen insgesamt, fast 45.000 täglich, davon die Hälfte Kinder. Die größte Bürde der Flüchtlingsaufnahme trägt nicht Europa oder Deutschland – das nur auf dem 59. Platz aller 200 betrachteten Staaten liegt – sondern Libanon und die Türkei. 45% der Flüchtlinge suchen Schutz in Afrika und im mittleren Osten, 31% in Europa (davon 17% in der Türkei) sowie 21 % in Asien. Mit 3 Mio. am geringsten ist im weltweiten Vergleich mit Abstand die Quote der Flüchtlingsaufnahme in den USA, die bis zum Juni sogar Kinder von Migranten von ihren Familien trennte. Im Juni haben die USA unter Trump den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen verlassen, der sich um die Verteidigung die Einhaltung der Menschenrechte bemüht. Laut Trump ist der UN-Menschenrechtsrat „die Jauchegrube der politischen Voreingenommenheit“.
Hungersnöte
Auch die bisherigen Erfolge der Welthungerhilfe bei der Halbierung der Zahl der Hungernden erleidet wieder Rückschläge durch die aktuellen Krise und Kriege und den Klimawandel: Laut „Globalisierungsreport“, den die Bertelsmann-Stiftung im Juni vorlegte, profitiert die Bevölkerung in den Industrieländern als Wohlstandsgewinner am meisten von der Globalisierung. Hingegen ist die Zahl der Hungernden weltweit auf 815 Millionen Menschen wieder angestiegen. Die Bekämpfung der Ursachen für Hunger und Flucht geht kaum voran, auch nicht die Abmilderung des voranschreitenden Klimawandels.
Klimawandel
Vor der internationalen Klimakonferenz in Berlin Mitte Juni muss die deutsche Umweltministerin ebenso wie die Kanzlerin kleinlaut eingestehen: Das Land verpasst deutlich seine Klimaschutzziele. Statt, wie angekündigt, den CO-2-Ausstoß bis 2020 um 40% zu senken, erreicht das Land nur eine Reduktion um 32% gegenüber 1990. Während die Klimaziele in weiter Ferne geraten, wurden im Juni auch viele Regionen in Deutschland im Juni von schweren Unwettern heimgesucht. Außerdem verurteilte der EU-Gerichtshof am 21. Juni Deutschland wegen Verletzung des EU-Rechtes angesichts der zu hohen Nitrat-Belastung des Grundwassers, weil die Bundesregierung zu wenig dagegen unternommen hatte.
Rüstungsspirale
Weitaus mehr Ehrgeiz entwickelt die deutsche Regierung in der Rüstungspolitik: Deutschland ist wieder als viertgrößter Waffenexporteur im Wert von 6 bis 7 Mrd. Euro bei der Rüstung ganz vorn, vor allem mit fragwürdigen Importen in Länder außerhalb der Nato und EU, so vermeldeten die Medien im Juni. Zugleich plant die Waffenschmiede Rheinmetall aufgrund einer Gesetzeslücke den Bau einer Panzerfabrik in der Türkei, um von dort aus Exportbeschränkungen umgehen zu können und damit ein Milliardengeschäft zu machen mit Rüstungsverkäufen auch in Spannungs- und Krisengebiete.
Bis 2020 will die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen
25 Mrd. € mehr für die Bundeswehr. Der Wehretat ist schon jetzt der zweitgrößte im Bundeshaushalt mit 41,5 Mrd. im kommenden Jahr und angestrebter Steigerung auf 60 Mrd. € jährlich. Und eine Milliarde Euro werden nach dem Willen der Regierungskoalition laut Bundestagsbeschluss vom Juni zusätzlich mobilisiert für die Anschaffung von umstrittenen Kampfdrohnen aus Israel für die deutsche Bundeswehr im Rahmen eines gemeinsamen europäischen Rüstungsprojektes „Eurodrohne“. In einer gemeinsamen Erklärung von CDU- und SPD-Politikern unternahmen diese zudem einen Vorstoß, die parlamentarischen Mitbestimmungsrechte des Bundestags bei europäischen militärischen Auslandseinsätzen künftig zu beschneiden.
Friedensforscher bedauerten im Juni, dass keine der Atommächte weltweit auf nukleare Abrüstung hinarbeite, sondern die Modernisierung ihrer Atomwaffen in Angriff nehmen. Die neun Atomstaaten besitzen zusammen ca. 15.000 Atomwaffen. Sollte der nordkoreanische Diktator tatsächlich der erste und einzige sein, der in seinem Deal mit Donald Trump die nukleare Abrüstung schrittweise beginnt?
Armutsbekämpfung
Derweil fehlt angeblich das Geld für die Armutsbekämpfung auch im reichsten EU-Land Deutschland, denn im Juni vermeldet der Dachverband der „Tafeln“ zum 25-jährigen Jubiläum, dass 1,5 Mio. bedürftige Menschen, vor allem Senioren als Armutsrentner und Hartz-IV-Empfänger nebst Asylsuchenden, auf die Armenspeisung angewiesen sind, weil ihnen kaum noch Geld zum Leben verbleibt. Derweil kämpfen die Gewerkschaften weiterhin für auskömmliche Einkommen und Renten und fordern einen weitergehenden Kurswechsel von der Regierung, um die vernachlässigte soziale Frage wieder in den Mittelpunkt zu stellen.
Kirchenfinanzierung
Hingegen wurden nach Meldung der Humanistischen Union vom Juni 2018 als Staatsleistung an die beiden großen reichen Kirchen in Deutschland steigende Geldzahlungen der Bundesländer in Rekordhöhe von 538 Mio. € geleistet, das sind 14. Mio. € mehr als im Vorjahr, unabhängig von Kirchensteuer und zusätzlich zu den Zahlungen für kirchliche Dienste (Kindergarten und Altenheime), also für die Kirchenverwaltung und die beamtenähnlichen Gehälter der obersten kirchlichen Würdenträger (Erzbischöfe, Bischöfe, Weihbischöfe und Domvikare). Seit Gründung der Bundesrepublik sind trotz Trennung von Kirche und Staat somit insgesamt rund 16 Mrd. € in die Taschen der Kirchenfunktionäre geflossen statt zugunsten der bedürftigen Armen ausgegeben zu werden.
Parteienherrschaft
Doch die Sorgen der christlichen und sozialen Regierungsparteien sind vorrangig andere, sie gelten nämlich dem eigenen Wohlergehen ihrer Parteien: Im Juni machten die Fraktionen von SPD und CDU/CSU auf Initiative der SPD - deren Zustimmungswerte laut Umfragen im Juni auf 17% sanken – die steuerlichen Zuschüsse für die Wahlkampf- und Parteienfinanzierung deutlich zu erhöhen, nämlich um 15%, das sind 25 Mio. € und damit eine Anhebung auf 190 Mio. € - ohne im Gegenzug die Parteienfinanzierung durch Interesse geleitete Spenden aus der Wirtschaft einzudämmen. Angesehene Juristen halten das für verfassungswidrig. Das Ganze geschah handstreichartig im Eilverfahren ohne Einbindung der Oppositionsparteien kurz vor dem ablenkenden Start der Fußballweltmeisterschaft. Hingegen nehmen der Lobbyismus und die Intransparenz bei der politischen Einflussnahme immer mehr zu, ebenso die Nebentätigkeiten und der bedenkliche Seitenwechsel von der Politik in die Wirtschaft ohne Karenzzeiten, wie die Organisationen Lobbycontrol, Abgeordentenwatch oder Transparency International beklagen. Auch dadurch geht die Politik zugunsten der Wohlhabenden und zu Lasten der Benachteiligten ungebrochen weiter.
Reichtumssteigerung
Im Juni wurde bekanntgegeben, dass weltweit die Zahl der über 18 Millionen Dollar-Millionäre, deren Vermögen die Marke von 70 Billionen Dollar überschritten hat. im Vorjahr um fast 10% gestiegen ist, Insbesondere der Börsenboom und steigende Immobilienpreise vermehrten deren Vermögen um insgesamt 5,2 Billionen Dollar, das ist ein Plus von 7,6%. Die 62 reichsten Menschen der Welt besitzen nach einer Studie der Hilfsorganisation Oxfam so viel wie die 3,6 Mrd. ärmsten Menschen.
Und die Schere geht auch in Deutschland immer weiter auseinander. Hier verfügten 1.364.600 Menschen über ein anlagefähiges Vermögen von über 1 Mio. Dollar, das waren gut 84.000 Personen mehr als im Jahr zuvor.
Mit ein paar kleinen Steuererleichterungen für die Mittelschicht, einer nur teilweise wirksamen Mindestlohnregelung und geringfügigen Kindergelderhöhungen etc. packt die „große Koalition“ diese auch in Deutschland besonders ausgeprägte Schieflage nicht wirklich an, da sie eine wirksame Reform der Vermögens.-und Erbschaftssteuer weiterhin ablehnt.
Europakrise
Ein Jahr vor der Europawahl 2019 in der kriselnden EU, bei der ein Rechtsruck in ganz Europa zu befürchten ist, werden trotz der Vorstöße des französischen Staatspräsidenten Macron wirklich notwendige Reformen für ein sozialeres und demokratischeres Europa, trotz Priorität in den deutschen Koalitionsvereinbarungen und einzelner kleiner Schritte, nicht erkennbar. Lediglich die Hürden für kleinere Parteien sollen nach deutschen Vorstellungen bei der Europawahl durch eine Sperrklausel erhöht werden, damit die etablierten Parteien unter sich bleiben können. Bei allen anderen europäischen Vorhaben gibt es derzeit eine Kakophonie. Allein beim Aufbau einer „Militärunion“ scheint derzeit die europäische Zusammenarbeit gut zu funktionieren.
Der vielgelobte Reformer Emmanuel Macron entpuppt sich im Juni n seinem eigenen Land in der Sozialpolitik als „neoliberaler Hardliner“, der die Bevölkerung und die Gewerkschaften auf die Straßen treibt. Im Juni äußerte er sich kritisch zu dem „kostspieligen, ungenießbaren und ineffizienten“ sozialen System der Beihilfen und Existenzminima. Die Armen müssten sich nach seiner Auffassung anstrengen und mit mehr Genügsamkeit und Erziehung angeleitet werden, sich selber in Eigenverantwortung aus der (quasi individuell verschuldeten) Armut zu befreien. Deshalb will er die Staatsausgaben bis 2022 um 60 Mrd. € kürzen, insbesondere die die diversen Sozialleistungen und Beihilfen – die Armen als lästiger Kostenfaktor. (Das erinnert an die abfälligen Äußerungen und „erzieherischen Maßnahmen“ seinerzeit von Kanzler Schröder und Wirtschaftsminister Clement in Deutschland gegenüber den „faulen“ Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern bei der Einführung von Hartz IV mitsamt den Sanktionsregeln).
Steuergeschenke
Mit dieser Gesinnung lässt sich kaum ein sozialeres und solidarischeres Europa mit einer steuerlichen Korrektur der ungerechten Armuts-Reichtums-Verteilung in Deutschland und Europa aufbauen, trotz aller Lippenbekenntnisse für eine europäische „Sozialunion“ unlängst in Göteborg. Für diese bedürfte es hinreichender Steuereinnahmen von den Reichen und Konzernen, die weiterhin begünstigt und geschont werden.
Zusammen mit Macron will jedoch der deutsche Finanzminister Olaf Scholz, unterstützt von seinem „Goldman-Sachs-Staatssekretär Jörg Kulies, die verkündete Einführung einer Transaktionssteuer nur auf den Handel von Aktien und einigen Anleihen beschränken, nicht aber von Derivaten. Damit wird die Steuer zu einer bloßen Alibi-Steuer oder zu einem Etikettenschwindel mit Einnahmen von nur 5 bis 7 Mrd. Euro statt erzielbaren 40 bis 50 Mrd. €, wie der grüne EU-Abgeordnete Sven Giegold kritisiert. Zudem hält Scholz an Schäubles Politik der „schwarzen Null“ eisern fest, statt überfällige Investitionen im nötigen Umfang zu ermöglichen.
Handelskrieg
Nach dem Motto seiner Lieblingsautorin Ayn Rand – „Egoismus ist eine Tugend, denn es gibt kein Gemeinwohl, und Altruismus ist ein Übel, das Nationen zerstören kann“ – hat US-Präsident Donald Trump mit seinen protektionistischen Strafzöllen einen internationalen Handelskrieg begonnen, der im Juni zu Gegenreaktionen fast aller Wirtschaftsnationen weltweit und auch der EU geführt hat und dessen Folgen nicht absehbar sind. Zugleich wird seit Juni das Heil des freien Handels in der Wiederbelebung der unfairen und umstrittenen Freihandelsverträge TTIP „light“, CETA, Jefta, TiSA, EPA usw,. gesehen, die gerade von der Zivilgesellschaft teilweise ausgebremst oder abgemildert worden sind. Am Ende wird es nur Verlierer geben und keine Gewinner.
Durch den chauvinistischen Nationalismus weltweit werde der Weltfrieden bedroht, sagte im Juni der scheidende UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Said Raad alHussein, in Genf: „Zu viele Regierungen mit selbstsüchtigen und kaltschnäuzigen Führungspersonen täuschten Unterstützung für gemeinsame Ziele vor, kämpften aber nur für eigene Interessen“.
Dieselskandal
Die eigenen Interessen und diejenigen ihrer Aktionäre standen auch im Vordergrund der deutschen Automobilkonzerne, ohne Rücksicht auf die Interessen der Kunden und Käufer oder auf die Gesundheit der von Schadstoffen belasteten und gesundheitlich gefährdeten Menschen - allen voran VW mit staatlicher Beteiligung des Landes Niedersachsen. Nun endlich sind im Juni die millionenfachen Betrügereien nicht als bloße „Schummeleien“, sondern als Menschen gefährdende Straftaten angesehen worden, mit Milliarden-Strafzahlungen, Haftbefehlen und Untersuchungshaft sowie staatsanwaltlichen Ermittlungen gegen die Automanager und Konzernbosse, die zuletzt noch millionenschwere Boni und Gehälter für ihre Geschäftspolitik kassierten – ähnlich wie bei der kriminellen Deutschen Bank, die mittlerweile am Abgrund steht.
Doch die allzu engen Verflechtungen zwischen Autoindustrie und deren Lobby mit den Spitzenpolitikern der Bundes- und Landesregierung bis hinauf zur Kanzlerin haben immer noch nicht dazu geführt, die technischen Nachrüstungen der Dieselautos rechtlich anzuordnen – obwohl die verantwortlichen Minister und Behördenchefs sich dabei hart an der Grenze der „Strafvereitelung im Amt“ bewegen. Solange weiterhin die Menschen in den verkehrsreichen Städten mit Stickoxiden gesundheitlich gefährdet werden, verletzen die Politiker auch ihrem Amtseid, Schaden vom Volk anzuwenden. Dazu gehört schon eine gehörige Portion Skrupellosigkeit und Abgebrühtheit in der lobbyhörigen Regierungszentrale der GroKo, die vielleicht den Sommer nicht mehr übersteht. Einen Toten gibt es schon, glaubt man dem Journalisten Jakob Augstein, der meint, die SPD sei schon tot, sie habe es nur noch nicht gemerkt…
Wilhelm Neurohr
21. 06. 2018
Autor:Dietrich Stahlbaum aus Recklinghausen |
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