Zum Jahreswechsel
Was wir in den Weihnachts- und Neujahrsansprachen des Bundespräsidenten und Bundeskanzlers vermisst haben

„Thema verfehlt – mangelhaft, setzen!“ so würden wahrscheinlich in der Schule die Texte der diesjährigen Weihnachts- und Neujahrsansprachen unserer höchsten politischen Repräsentanten beurteilt, (die sie im Wortlaut ihrer Redenschreiber salbungsvoll vom Teleprompter abgelesen haben). Alle Jahre wieder bleiben in den Ansprachen unserer Spitzenpolitiker an das Volk die eigentlichen Probleme von Millionen Menschen aufgrund politischer Versäumnisse unerwähnt. Die wirklichen Sorgen der „lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger“ und der "lieben Landsleute" scheinen aus dem politischen Bewusstsein verdrängt zu werden. Das ist unverzeihlich angesichts des daraufhin zu befürchtenden politischen Rechtstrends in diesem Wahljahr 2024.

Frühere Bundespräsidenten wie Gustav Heinemann oder Johannes Rau waren in ihren empathischen Reden näher dran an den Anliegen und Nöten der Menschen, sei es bei sozialen Themen oder bei Themen von Krieg und Frieden. Der frühere Bundeskanzler Willy Brandt sah seine Neujahrsansprache als Gelegenheit, „sich und anderen Rechenschaft abzulegen und die Würde des einzelnen Menschen hervorzuheben."

Daran reichen die heutigen Festredner nicht annähernd heran. Dabei sollte die politische Weihnachtsbotschaft zur Selbstbesinnung anregen und der Jahreswechsel Anlass zu einem dringend erforderlichen Politikwechsel im Neuen Jahr sein. Wenn schon vom Bundespräsidenten die „Gemeinsamkeit“ beschworen wird, während die soziale Spaltung in Wirklichkeit schneller als zuvor voranschreitet, dann sollten die gemeinschaftsfördernden Projekte zur Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung konkret benannt werden.

Rhetorik der politischen Repräsentanten geht an der Wirklichkeit vorbei

Das bloße rhetorische Bekunden von „Verständnis für die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger“ durch Kanzler Scholz reicht nicht aus, um die „Zuversicht“ auszustrahlen, die es Präsident Steinmeier nicht zu verbreiten gelingt. Lieber gar keine Antworten als „einfache Antworten auf die Fragen der Zukunft“, wie von Steinmeier beklagt? Wie wäre es, überhaupt einmal die relevanten Zukunftsfragen auf die Tagesordnung zu setzen, werte Repräsentanten des Volkes? Stimmt Ihre Behauptung, Herr Bundeskanzler, „Deutschland sei den Herausforderungen dieser Zeit gewachsen“?

Stattdessen: Von beiden kein hilfreiches Wort etwa zur schnellen Beseitigung der akuten Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit bei zugleich ungebremst steigenden Mieten. Jeder vierte Mieterhaushalt ist inzwischen von Armut bedroht. Warum keine Mietenbremse? Kein Sterbenswörtchen zum Skandalthema der seit 20 Jahren ungebremst ansteigenden Kinderarmut mitsamt Bildungsarmut in diesem reichen Lande, oder Konkretes zur ausbleibenden Kindergrundsicherung. Warum macht die Politik das nicht zu ihrem Hauptthema und Hauptanliegen? Denn Kinder sind unsere Zukunft. Und was ist mit der Altersarmut sowie der Armuts- und Reichtums-Verteilung und Steuergerechtigkeit in unserem Lande überhaupt? Von den verpassten und kaum noch erreichbaren Klimazielen und dem ungebremsten Artensterben erst gar nicht zu reden.

Eine selbstkritische Reflexion fehlte in den schönfärbenden Reden

In den diesjährigen Weihnachts- und Neujahrsansprachen wird jedoch eine selbstkritische Reflexion tunlichst vermieden. Zugleich beklagt der Herr Bundespräsident, dass „manche sich abwenden und andere auf jedes und alles schimpfen“. In der Tat, Herr Bundespräsident, um Sie zu zitieren: „2023 hat in Deutschland viele Fragen offen gelassen“ und „manch einer schaut skeptisch auf Staat und Politik“, ja, „viele Menschen wenden sich von den Nachrichten ab“. Warum wohl?

Das hat nichts mit der von Ihnen, Herr Bundespräsident, unterstellten und beklagten „Wut und Verachtung“ der Bürger zu tun als vielmehr mit dem von Ihnen eingeforderten Engagement für unsere Demokratie - die nur noch sehr eingeschränkt zu funktionieren scheint und die Belange der Mehrheit gegenüber den Interessen der vermögenden Minderheit ignoriert.

Menschenrechtsverletzungen in Deutschland kein Thema zum Jahreswechsel?

Hatte nicht erst kurz vor Weihnachten, zum internationalen „Tag der Menschenrechte“, der UN-Menschenrechtsrat zum vierten Mal in Folge unsere Bundesrepublik Deutschland wegen einer Reihe von Verstößen gegen die sozialen Menschenrechte abgemahnt - insbesondere auch wegen der anhaltenden und ungebremst steigenden Kinderarmut in Deutschland von 18% auf über 22% in den letzten 20 Jahren, begleitet von der Bildungsbenachteiligung der Betroffenen?

Lassen unsere politischen Repräsentanten solche Mahnungen Jahr für Jahr tatenlos an sich abprallen? Merken sie nicht, dass mit ein wenig Kindergelderhöhung und dergleichen das Grundsatzproblem nicht zu beseitigen ist, sondern die Armutsquote im neuen Jahr absehbar noch stärker steigen wird? Haben Sie das mit „Respekt“ gemeint gegenüber dem wachsenden Millionenheer der Bedürftigen im reichen Deutschland, Herr Bundeskanzler? Sind das die „Erfolge“ von denen Sie als Kanzler in Ihrer Neujahrsansprache redeten?

Ungerechte Armuts- und Reichtums-Verteilung kein Thema?

In diesem Jahr bei den feierlichen Ansprachen hörten wir kein Sterbenswort zur ungerechten Armuts- und Reichtums-Verteilung in diesem Land mit Verdoppelung der Zahl der Tafelbesucher und der Obdachlosen. Und das, obwohl die Regierung selber die Einkommens- und Vermögensungleichheit in ihren turnusmäßigen „Armutsberichten“ regelmäßig offenlegt, aber dann stets zu den Akten legt. Kein Wort zur drastisch steigenden Zahl der Armutsrentner in diesem Land mit absehbarer Altersarmut, bei zugleich unbezahlbaren Pflegekosten und fehlenden Seniorenwohnungen. Doch alles wird gut, denn „Löhne und Renten steigen und die Inflation sinkt“, verkündet Kanzler Scholz stolz.

„Ein Staat ohne soziale Gerechtigkeit ist eine große Räuberbande“

Vergessen auch die Empörung nach der aufwühlenden ZDF-Sendung kurz vor Weihnachten über den obszönen Reichtum und die Macht der steuerflüchtigen Milliardäre in Deutschland, die aus dem Finanzministerium sogar Tipps zur Steuervermeidung erhalten, ohne dass der verantwortliche Finanzminister zurücktrat. Dass es wegen der tatenlosen Politik immer mehr soziale Verlierer und Gewinner gibt und die Schere immer weiter auseinandergeht, wird einfach ausgeblendet.

Erst recht nicht beherzigt wurde in den Reden die Mahnung des Staatsrechtslehrers Augustinus schon vor 1.600 Jahren: „Ein Staat, dem es an sozialer Gerechtigkeit mangelt, ist nichts anderes, als eine große Räuberbande“. Warum nicht so eine staatstragende Erkenntnis heute aus dem Munde unseres Staatsoberhauptes, (der mit Hilfe des zwielichtigen Wirtschaftslobbyisten und Parteifreundes Sigmar Gabriel in das höchste Staatsamt komplimentiert wurde und sich selber für eine zweite Wiederwahl empfahl).

Totalversagen von sieben Regierungskoalitionen seit 1990

Seit 1990 haben sieben Regierungen mit allen 4 beteiligten Parteien über 3 Jahrzehnte in 9 Wahlperioden allesamt ein Totalversagen bei der stets verkündeten Beseitigung der Kinderarmut und der ungleichen Einkommensverteilung oder bei der Steuergerechtigkeit verschuldet, ebenso bei der verrottenden Infrastruktur: Die schwarz-gelbe Regierung Kohl in den 90-er Jahren , die rot-grüne Regierung Schröder um die Jahrhundertwende (mit ihrer Armut auslösenden Agenda-Politik des Sozialabbaus), die schwarzgelbe und schwarzrote Regierung Merkel 16 Jahre lang sowie die seit 2021 amtierende Ampelkoalition von rot-grün-gelb.

Das wird in den staatstragenden Reden zum Jahreswechsel stets ausgeblendet. Ja, Herr Scholz, jetzt wird endlich „mehr Geld in die Hand genommen, um die jahrzehntelang auf „Verschleiß gefahrene Infrastruktur“ zukunftsfest zu machen. Leider gelingt das nicht mit Ihrer (von Ihrem Parteifreund Steinbrück eingeführten) Schuldenbremse, wie alle seriösen Ökonomen Ihnen und Ihrem ideologisch festgefahrenen Finanzminister bestätigen. Doch die Regierung sei den Problemen gewachsen verkündet Kanzler Scholz in seiner Neujahrsansprache. Wir sind schon auf die Erfolgsbilanz in seiner nächsten Rede in 2024/2025 gespannt.

Erhöhte Militär- und Rüstungsausgaben zu Lasten des Sozialetats?

Zudem mangelte es in den Reden unserer heutigen Staatsführer an Konzepten und Perspektiven zu überfälligen diplomatischen Entspannungs- und Friedensbemühungen an den mörderischen und zerstörerischen Kriegsfronten. Ansonsten werden wir keine Sieger sehen, sondern nur Besiegte und Verlierer auf beiden Seiten. Je länger der Krieg dauert, desto mehr Besiegte, Tote und Verkrüppelte, Traumatisierte sowie zerstörte Städte und Landschaften - im Namen der Freiheit? (Erich Kästner: „Kennst du das Land, wo die Kanonen blühen? Dort reift die Freiheit nicht. Dort bleibt sie grün. Was man auch baut, – es werden stets Kasernen“.)

Und der wirtschaftliche Niedergang als Kriegsfolge zeichnet sich längst ab, mit einer steigenden Zahl an sozialen Verlierern. Die drastische Erhöhung der Militär- und Rüstungsausgaben geht bereits zu Lasten der sozial Benachteiligten, entgegen den anderslautenden Beteuerungen der Spitzenpolitiker, weil eine höhere Besteuerung der oberen Zehntausend gemieden wird „wie der Teufel das Weihwasser“. Die Unzufriedenheit damit nimmt sich der Kanzler „zu Herzen“, doch die Kritiker dieser lobbyhörigen Politik überhört er geflissentlich, denn „mit Gegenwind kommt er zurecht“, wie er in seiner Neujahrsansprache betont. 2024 wird ein sehr windiges Jahr.

Milde Gaben als soziale Wohltaten?

Stattdessen tröstete Kanzler Scholz in seiner Neujahrsrede die 4-köpfige Durchschnittseinkommens-Familie mit einer Steuererleichterung von 500 € im Jahr (oder unzureichenden 40 € im Monat) und etwas erhöhtem Wohngeld, mit dem die überhöhten Mietforderungen der Immobilienbesitzer abgesichert werden. Das den Bürgern versprochene Energiegeld oder die angestrebte Kindergrundsicherung wurden auf Sankt Nimmerleinstag verschoben, und vom Wohnungsneubauprogramm und der Bahnsanierung wird allenfalls die nachfolgende Generation etwas merken. Mit der Erwähnung der einen oder anderen milden Gabe im Sozialbereich werden soziale Wohltaten verkündet, die kein wirksamer Beitrag zur tatsächlichen Beseitigung der sozialen Armut und Ungerechtigkeit sind.

Soziale Frage hat bei einstigen Agenda-Politikern keinen Stellenwert

Dass sowohl Frank-Walter Steinmeier als auch Olaf Scholz – beide vormals engste Mitarbeiter und Unterstützer von Agenda-Kanzler Gerhard Schröder in Partei und Regierung - die soziale Frage ungern ganz vorne auf die Tagesordnung setzen, ist offenkundig, obwohl ihre Partei dadurch die Hälfte ihrer Wähler und Mitglieder dauerhaft verloren hat. Mit der aktuellen Kehrtwende beim Bürgergeld geht es zurück in die Hartz-IV-Ideologie und damit in die weitere soziale Spaltung der Gesellschaft. Insofern führt uns das Jahr 2024 im Sozialen zurück in die 1990-er Jahre?

Wird es ein böses Erwachen im Wahljahr 2024 geben?

Zugleich haben sich die verantwortlichen Spitzenpolitiker von der friedenssichernden Entspannungs- und Abrüstungspolitik von SPD-Friedensnobelpreisträger Willy Brandt verabschiedet und distanziert - mit der vollzogenen Wende zur Militarisierung und Aufrüstung. Aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, davon sind unsere derzeitigen „Staatsmänner“ weit entfernt. Das böse Erwachen ist im Wahljahr 2024 zu befürchten, wo die gleichen verantwortlichen Personen dann sicher über die Wahlergebnisse Krokodilstränen vergießen werden und Wählerbeschimpfung zu erwarten ist.

Wurden die Schlagzeilen des abgelaufenen Jahres geflissentlich überlesen? Jeden Morgen erhalten der Bundespräsident und der Bundeskanzler den Pressespiegel auf den Schreibtisch. Hätten sie doch die Schlagzeilen des Jahres 2023 täglich gelesen und bei ihrem Jahresrückblick zitiert und gewürdigt:

• “Kindergrundsicherung ist ein Armutszeugnis“.
• „Kindergrundsicherung hat trotz Rekordsteuereinnahmen von einer Billion € keine Priorität“.
• „Lindner stellt Kindergrundsicherung in Frage“
• „Diakonie warnt vor Folgen von Kinderarmut.“
• „So viele armutsgefährdete Kinder wie nie“.
• „Schlechter Bildungsabschluss – ewiger Armutskreislauf“

• „Immer mehr Rentnerinnen und Rentnern droht Altersarmut“.
• „Altersarmut deutlich um 10 Prozent gestiegen“.
• „Altersarmut bedroht viele Rentner- 600.000 brauchen Grundsicherung“.
• „Sozialer Sprengsatz: Über 9 Mio. Vollzeitbeschäftigte erhalten künftig unter 1.500 € Rente“.
• „Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern lässt sich etwas Gutes für eine Rentenreform abschauen“.
• „Was Armut aus den Menschen macht“
• „Millionen Menschen frieren in ihrer Wohnung“.

• „Reallöhne sinken um 4 %“.
• „Jeder Vierte verdient unter 14 Euro“.
• „Kaufkraftverlust in Deutschland höher als gedacht“,
• "Beschäftigte wehren sich gegen niedrige Löhne und steigende Lebenshaltungskosten“
• "Menschen mit niedrigen Löhnen sterben früher"

• „Die Zahl der Einkommensmillionäre in Deutschland steigt und steigt“.
• „Dax-Vorstände erhalten 28 mal so viel Gehalt wie ein Beschäftigter“
• „So viel Privatjets wie noch nie“.
• „Reiche leben viel klimaschädlicher“.
• "Gutachter liefern viele gute Gründe für eine Vermögenssteuer“.

Wilhelm Neurohr, 01. Januar 2024

Siehe auch früheren Artikel im Lokalkompass:
https://www.lokalkompass.de/haltern/c-politik/haben-die-siegreichen-parteien-in-nrw-den-weckruf-immer-noch-nicht-gehoert_a1735702

Autor:

Wilhelm Neurohr aus Haltern

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