Recht haben
Recht haben. Eine kleine zen-buddhistische Geschichte
Zwei Mönche stritten sich über einen Lehrtext. Jeder bestand darauf, dass er Recht habe, und bezeichnete die Meinung des anderen als falsch. Einer der beiden sagte: „Ich gehe zum Meister. Er soll darüber entscheiden.“ Und so ging er zum Meister, dem gerade ein dritter Mönch den Schädel rasierte.
„Ehrwürdiger Meister“, sagte er. „Ich hatte eben einen Streit mit meinem Bruder.“ Er zitierte die umstrittene Textstelle und trug ihm seine eigene Meinung vor. “Mein Bruder dagegen behauptet, ich sei im Irrtum.“ Er trug dem Meister auch die Meinung seines Bruders vor und fragte: „Meister, wer hat nun Recht, mein Bruder oder ich?“
Der Meister sagte: „Du hast Recht.“
Erfreut über diese Antwort, ging der Mönch zu seinem Bruder und erzählte es ihm. Dieser jedoch lief zum Meister und beschwerte sich: „Meister, das kann doch wohl nicht sein! Ich berufe mich auf den Kommentar eines großen Lehrers und soll im Irrtum sein und er im Recht?!“
Der Meister antwortete: „Ja, du hast Recht.“
Der dritte Mönch, der dem Meister gerade den Schädel rasierte, ein wahrheitsliebender Mensch, war bestürzt.
„Meister!“, rief er, „ehrwürdiger Meister, wie kannst du sagen, beide haben Recht?! Entweder hat der eine Recht oder der andere.“
Der Meister sah ihn lächelnd an und sagte: „Ja, auch du hast Recht.“
[Aus: Stahlbaums Zeitfragen-Blog, 29. 12. 2015]
Autor:Dietrich Stahlbaum aus Recklinghausen |
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