Ruhrfestspiele Recklinghausen überzeugten meist ihr Publikum
Mit „Poesie und Politik“
RECKLINGHAUSEN. Zum krönenden Abschluss der Ruhrfestspiele wurde das ganz große Besteck ausgepackt:
Bertolt Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“
Mit dem großartigen und allein für seine Stimm- und Spiel-Artistik nicht genug zu preisenden Hauptdarsteller Martin Wuttke, als unnachahmlich dauerhechelnder Hitler-Straßenköter „Ui“ und einer Wahnsinns-Margarita Broich als „Dockdaisy“ und „Betty Dullfeet“ in diesem einfach nur großartigen Berliner Ensemble. Würdige Brecht-Erben, jeder auf seine Weise. Hier einst in Hochform gebracht noch vom Brecht-Schüler Heiner Müller (1929 - 1995) selbst, Nazis im Chicagoer Mafia-Gemüsehändler-Milieu, inszeniert vor einem Vierteljahrhundert.
Darunter auch als „Ein Schauspieler“ (Schauspiellehrer des Gangster-Diktators) der wunderbare, in der jung gebliebenen Inszenierung heute alt gewordene Jürgen Holtz. Roman Kaminski als „Ignatius Dullfeet“ oder Uwe Preuss als „der junge Dogsborough“.
Viel wurde schon geschrieben über diese 25 Jahre junge „Ui“- und Ensemble-Leistung. Und wer sie sich nun endlich einmal oder vielleicht sogar nostalgisch erinnernd wieder ansehen wollte, wurde überrascht von der aktuellen Wucht dieser prophetischen Arbeit in Zeiten neuer Möchtegern-Diktatoren. Donnernder Applaus und zahllose Verbeugungsrunden an beiden ausverkauften Vorstellungstagen. Das Publikum klatschte sich stehend die Seele aus dem Leib und sah in die Gesichter glücklicher Schauspieler. Die irgendwann nur noch zurück klatschen konnten, hier im Revier auf ein anderes Publikum als gewohnt treffend!
Viel ist passiert, während die Ruhrfestspiele in diesem ersten inhaltlich selbstbestimmten Jahr der Intendanz Olaf Kröck sechs Wochen vor allem die kulturelle Weltvielfalt ins Revier geholt haben:
Ein halbes Jahr nach dem endgültigen Steinkohle-Ausstieg ist die einstige Arbeiterpartei SPD nur noch ein Schatten ihrer selbst und die erste Frau an der Spitze der Partei, vor kurzem noch Gast hier am 1. Mai, auch schon Geschichte. Im Schutz des bunt romantisch beleuchteten Parks rund um den alten Arbeiterfestspiel-Hügel ist noch ein bisschen alte Traditions-Bewegung unter den alten Baumriesen zu spüren. Bewahren werden diese wohl aber ihre Enkel, die an den „Fridays for Future“ Demos teilnehmen.
Es ist nicht einfach, in diesen Zeiten Kulturarbeit und gegen Verrohung und Barbarei mobil zu machen:
Der gelernte Dramaturg Olaf Kröck ist mit „Poesie und Politik“ angetreten. Er hat das Angebot für Kinder- und Jugend-Theater ausgebaut. Auch für dieses Festival eine Eröffnungsrede eingeführt. Über 850 Künstlerinnen und Künstler aus rund 16 verschiedenen Ländern eingeladen: Tanz, Theater, bildende Kunst, Lesungen, Konzerte. Von den rund 71.000 Karten wurden bis kurz vor Schluss über 64.000 verkauft und somit eine Auslastung von rund 90 Prozent erreicht.
Es gastierten herausragende Inszenierungen wie „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ mit der großen Maria Schrader und dem nicht minder überzeugenden Devid Striesow als „Horror-Akademiker-Paar“ Martha und George in der Regie von Karin Beier vom Schauspielhaus Hamburg:
Ein wirklich gelungen inszeniertes Geschlechter-Duell, sekundiert von einer ebenfalls großartigen „dümmsten Nuss“ (eigentlich eine sehr undankbare Rolle) dem „Schätzchen“ Honey: Josefine Israel hat sich diese klassische Neben-Rolle gegriffen und wie! Das junge Paar in der „Gästefalle“ der beiden alten Hochschul-Vampire hat es ja schon rein stücktechnisch nie leicht und wird in der Regel genüsslich vor Publikum „gegrillt“ und „an die Wand gespielt“. Matti Krause als Nick gibt aber nicht kampflos auf und hält gegen - so lange es eben geht. Großer und begeisterter Applaus auch für die Gäste aus Hamburg.
Kröcks bunte Mischung aus vorwiegend Gastspielen und Koproduktionen hatte es in vielerlei Hinsicht in sich:
Der Eröffnungs-Auftakt „Beytna“ - Tanztheater von Omar Rajeh mit Salat-Schnippeln bis zum Fastenbrechen nach Sonnenuntergang und Publikums-Verköstigen auf der Bühne - gestreckt durch vier einmal selbst tanzende Choreografen - war zumindest wohlschmeckend. Auch wenn einige Besucher nach zwei Stunden ohne Pause eigenen Aussagen nach nun einfach „alles gegessen hätten“.
Auch das „Heerlager der Heiligen“ gleich drauf zu Beginn im Kleinen Haus war schwere Kost:
Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer, der zum Start von Kröcks kurzer Interims-Spielzeit dort in Bochum noch mit seiner Trump-Persiflage „Volksverräter“ sehr launig und intelligent auf die Weltpolitik eingegangen war, hatte sich am schwer verdaulichem Text-Gekäue des Front-National-Sympathisanten Jean Raspail irgendwie Stück-verwählt. Wie auch kurz darauf bei der Frankfurter Zweit-Premiere dieser Koproduktion wirkten die Akteure trotz einzelner Brillanz ein wenig unglücklich. Manche retteten sich in Durch-Schreien samt aktivem und passivem Würgen. Der krude Plot eines sich im Erbschloss verbarrikadierenden adligen Familienoberhauptes samt merkwürdiger Verwandtschaft, der genauso stilsicher über seine selbst angebauten Weine und selbst geschossenen Edelhirsche parliert, wie über die mit allen Mitteln und Waffen abzuwehrende Flut von „Kot-Knetern“ (aus Indien angelandete Elende, die Kuh-Dung zum Heizen und Kochen nutzen) wiederholte sich - in sich immer verworrener.
Bewundernswert verkörperte Michael Schütz (früher: Essen, Düsseldorf und Bochum) diesen unbelehrbaren „alten weißen Mann“, ja Herrenmenschen mit aasiger Würde.
Und ließ sich auch nicht durch peinliche Geburtsphantasien aus der Fasson bringen. Es war tatsächlich eine schleimige Flut hunderter kleiner Plastik-Flüchtlingsbabies on stage zu gebären. Der Raspail-Romantext von 1973 wurde auch in eigener Übersetzung (statt Tantieme für den teutschen, neurechten „Verlag“) keine intelligentere Theater-Umsetzung oder auch nur besser verständlich. Und für die gewollte Abschreckung durch Ekel, wenn darin auch gelungen, zu lang. Applaus gab´s trotzdem für dies verkalkulierte Ansinnen.
Ein Bühnen-Gespräch mit Mülheims Theater-Zauberer und Clowns-Spezialisten Roberto Ciulli, der sich mit Kodirektor Dramaturg Helmut Schäfer den Fragen des Moderators und Dramaturgie-Kollegen Olaf Kröck stellte, wurde fast Vermächtnis:
Ciulli erzählte von den Anfängen seines 1980 gegründeten „Theaters an der Ruhr“ in Mülheim. Damals war es z.B. noch ungewohnt, wenn ausländische Schauspieler auf Deutsch Klassiker mit Akzent spielten. Die Erwartungshaltung des Bildungs-Bürgertums sei damals noch aufs hochsprachlich gemeinte Klassiker-Rezitieren fokussiert gewesen. In Ciullis anschließender (von Mülheim aus um die Ecke als eins von drei Werkschau-Stücken gastierender) „Othello“-Inszenierung mit dem nigerianischen Hauptdarsteller Jubril Sulaimon wird bekanntlich Shakespeare ins Heute des Boxsportes verlegt. Denn wo sonst als im Sport könne sich heute ein schwarzer Mensch gesellschaftlich erfolgreich integrieren, wie seinerzeit der Militär Othello in Venedig? Kröck hatte sich im ersten Jahr den Dramaturgen-Wunsch erfüllt, u.a. die drei legendären Regisseure Peter Brook, Heiner Müller und Ciulli mit Gastspielen zu zeigen.
Und was wären Festspiele ohne Abschlussparty?
Der Berliner Bühnenstar Lars Eidinger (wie viele, diesmal hier nur lesende berühmte Kollegen auch er nicht in einer Bühnenrolle) bleibt als DJ mit seiner „Autistic Disco“ ebenfalls im Ruhrfestspiel-Gedächtnis. (cd)
Autor:Caro Dai aus Essen-Werden |
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