"Einmal im Jahrhundert..."
Die Geschichte der Kontra-Altistin Marian Anderson
"In jedem Jahrhundert gibt es nur eine Handvoll aussergewöhnlicher Männer und Frauen,die sich sowohl als großartige Künstler wie auch als große Persönlichkeiten einen Namen machen.Nur wenige rufen Respekt und Bewunderung gleichsam bei den Mächtigen und den weniger Mächtigen dieser Erde hervor.In unserer Zeit paßt diese Beschreibung auf MARIAN ANDERSON."So schrieb der bekannte Impresario Sol Hurok.
Es ist durchaus nicht einfach,eine genaue Analyse über die Eigenschaften der Frau und Künstlerin Marian Anderson zu erstellen,da sich ihre künstlerischen Triumphe in keiner Hinsicht in ihrem persönlichen Leben ausmachen liessen.
Als Frau von großer und dabei gleichzeitig einfacher Würde sowie ruhig-heiterem Charme brachte sie ihre Kunst zu einer solchen Perfektion,dass die Musik durch ihre emotionelle Wirkung fast einem Vergleich mit der Religion standhalten konnte.Diese Art der vollkommenen Hingabe,die man in einer Veranstaltung mit Marian Anderson spüren konnte,war immer ausgeprägt stark präsent,egal ob sie Schubert-Lieder interpretierte,Opernarien oder die geistlichen Gesänge der schwarzen Amerikaner sang.
Am 17.02.1902 in Philadelphia als Tochter eines Kohlenhändlers und einer Lehrerin geboren,gelangte sie als Mitglied des Kirchenchores zum Gesang.Hier erlernte sie alle Stimmlagen vom Sopran bis zum Bass.
1925 gewann sie unter 300 Mitbewerbern einen Wettbewerb in New York.Der Preis war ein Auftritt mit den New Yorker Philharmonikern im Lewison-Stadion.Aber in den folgenden Jahren blieb ihre Karriere vorerst in einem Stadium des Stillstands.So entschied sie sich trotz größter finanzieller Schwierigkeiten,nach Europa zu gehen.
Ihr erstes europäisches Konzert gab sie 1930 in Berlin.Ihm folgte eine ausgesprochen erfolgreiche Tournee durch Skandinavien,während der sie auch für Jean Sibelius sang.
"Einmal im Jahrhundert..."
Im August 1935 krönte sie eine sensationelle Europa-Tour mit einem Konzertabend in Salzburg.Als sie nach dem Konzert Arturo Toscanini vorgestellt wurde meinte dieser:"Eine Stimme wie die Ihre hört man nur einmal in hundert Jahren".
Und es ist nicht so sicher,ob er nicht buchstäblich damit recht hatte.Da war der dunkelblaue Samtklang des Mezzosoprans,die Posaunenstärke biblischer Wucht,die Inbrunst echter Frömmigkeit,die Demut eines wahren Menschen,der unbewußte Stolz einer alten Rasse:In jedem Ton dieser begnadeten Stimme schwang es,allen vernehmbar,in jede Herzkammer dringend,alle Länder und Meere überfliegend bis in den unendlichen Äther hinauf,in dem es keine Grenzen mehr gibt.
Wir Kapellmeisterschüler des Wiener Konservatoriums saßen in der Klasse,rund um den Flügel,als die Tür aufging und der Direktor mit einer jungen Schwarzen das Zimmer betrat.Sie war eine auffallende Erscheinung,nicht nur weil Schwarze im damaligen Mitteleuropa noch selten waren und besonders ungewohnt an Stätten klassischer Musik.
Der Direktor stellte sie uns vor,ohne dass wir den Namen behielten und ohne zu ahnen,dass dieser Name in wenigen Jahren,ja fast in Monaten,zu den weltberühmten gehören würde.
Wir wurden aufgefordert,die junge Sängerin aus USA für ein paar Schubertlieder zu begleiten.Und dann begann die Fremde zu singen.Sie machte ihren sehr großen doch keineswegs unschönen Mund auf und es quoll eine mächtige,herrliche,ja einmalig schöne und fremdländisch wirkende Stimme hervor,die uns Neulingen den Atem verschlug.Das Gesicht wurde im Singen innig,durchgeistigt,ergreifend,schön.Ihrem Munde entströmt,einem gewaltigen Orgelklang gleich,Schuberts "Ave Maria".Sie hält die Augen geschlossen,aber es ist keinerlei Pose in ihrem Gehaben,schlicht und innig ist alles an ihr,hingegeben an einen tiefgläubigen Text,an eine überirdisch reine Melodie.
Fast im gleichen Augenblick ging der Stern dieser jungen Sängerin in der ganzen Welt auf.Ihr Town-Hall-Konzertabend am 30.Dezember 1935 wurde ein Triumph.Ihre Wirkung war ungeheuer.Man war hingerissen von den Spirituals ihrer schwarzen Brüder,aber man bewunderte fast noch mehr ihr restloses Aufgehen im klassischen Lied. Ihr "Tod und das Mädchen" ,ihr "Ave Maria" waren vollendeter,als Schubert es selbst in seinen kühnsten Träumen gehört haben mag.
Eine der gesuchtesten Sängerinnen der Erde
Über nacht wurde das arme schwarze Mädchen aus Philadelphia,das zwar im Kirchenchor mitsingen,aber keine wirkliche Laufbahn antreten konnte,zu einer der gefeiertsten,gesuchtesten Sängerinnen der Erde.Ihre Konzerte in fünf Erdteilen waren Jahr um Jahr restlos ausverkauft.1938 gab sie allein in den USA 70 Konzerte,damals die längste und intensivste Konzerttournee eines Künstlers in der Geschichte der Konzertveranstaltungen.
Im folgenden Jahr wurde sie zu einem internationalen Symbol für den Kampf der Schwarzen um Gleichheit und Freiheit.
Als sie ein Konzert in der "Constitution Hall " in Washington geben sollte,verweigerte ihr die amerikanische Frauenvereinigung "Töchter der amerikanischen Revolution" den Zutritt zur Halle.Daraufhin erklärte die Präsidentengattin Eleanor Roosevelt ihren Austritt aus der Organisation,und organisierte ein Anderson-Konzert vor dem Lincoln-Memorial.Zu diesem Konzert am Ostersonntag 1939 kamen 75.000 Menschen und feierten die Künstlerin und demonstrierten damit gegen den Rassismus.
Marian Andersons äußerer Weg ist mit großen Ereignissen gepflastert.Er umkreist viele Male den Planeten,umschließt den festlichen Empfang,den Präsident Roosevelt ihr im Weißen Haus zuteil werden läßt,ihren Dankes- und Triumphgesang vor unübersehbaren Menschenmassen am Tage des Sieges,an dem die Welt vom Alpdruck des Zweiten Weltkrieges erlöst wurde.Marian Anderson blieb bescheiden,zurückhaltend,nur auf ihre Leistung bedacht.Fast wie eine Priesterin stand sie auf dem Podium,versunken in ihre Aufgabe.Die religiöse Ergriffenheit ihrer Gesänge hatte nicht ihresgleichen.Wenn sie vom Jordan sang,vom fernen gelobten Heimatland,von der Brüderlichkeit der Menschen,von den kindlich reinen Freuden des Paradieses,dann wurden ihre Hörer,wie sie selbst,dem Alltag entrückt,auf Flügeln einer von tiefer Erschütterung getragenen,unbeschreiblich schönen Stimme nachtdunklen Timbres.
Dass diese Stimme auch noch meisterlich geschult war,durch tägliches unermüdliches Training in höchster Geschmeidigkeit erhalten,versteht sich von selbst.So standen ihr,bis zu ihrem Verzicht in reifen Jahren,die tiefen Orgeltöne himmelragender Kathedralen so gut zur Verfügung wie der mitreißende Jubel von hohen Engelschören.
Erste farbige Sängerin an der Metropolitan Opera
Der 7.Januar 1955 war ein denkwürdiger Tag in der Geschichte der Metropolitan Opera und im Leben der Marian Anderson.An diesem Tag gab sie an Amerikas berühmtestem Opernhaus ihr Debüt als "Ulrica" in Verdis "Maskenball".Es war das erste Mal,dass die MET ihre Pforte einer farbigen Sängerin öffnete.
Im Herbst 1957 unternahm sie eine 10-wöchige Tournee durch Indien und den Fernen Osten,wobei ihr das US-State-Department Geleitschutz stellte.
Als Botschafterin der Kunst von Staatsoberhäuptern empfangen,als großartige Künstlerin und wunderbarer Mensch vom Publikum gefeiert,reiste sie damals insgesamt 34.000 Meilen und gab 24 Konzerte in 14 verschiedenen Ländern.
Ein Aufnahme- und Videoteam begleitete sie bei ihrer Tournee.Die Aufnahmen wurden zu einem Fernsehprogramm verarbeitet,das unter dem Titel "Die Lady aus Philadelphia" ausgestrahlt wurde.
Im darauffolgenden Jahr ernannte Präsident Eisenhower Marian Anderson zur Deligierten des Menschenrechtskomitee bei den Vereinten Nationen.
Im Januar 1961 flog sie nach Berlin,um vor den hier stationierten amerikanischen Truppen aufzutreten.
Ihre Abschiedstournee schließlich begann sie mit einem Konzert in der "Constitution Hall" im Oktober 1964,sie gab weitere Konzerte in vier Kontinenten und beendete die Tournee am 18.April 1965,an einem Ostersonntag in der "Carnegie Hall".
Sie zog sich schließlich auf ihr kleines Landgut zurück,in tiefer Seele wohl traurig über Rassenwahn und Unverstand einer Welt,der sie stets nur Brüderschaft und Liebe mit den Mitteln der menschenverbindenden Musik gepredigt hatte.Dort verbrachte sie,in selbstgewählter Einsamkeit,ihren Lebensabend inmitten friedlicher Felder und sie zärtlich umgebender Tiere.
Marian Anderson hat Türen für zahlreiche andere schwarze Künstler geöffnet und wesentlich zur Emanzipation der Schwarzen beigetragen - "indem ich half,ein Beispiel zu geben",wie sie selbst sagte.
Sie veröffentlichte 1960 ihre Biographie unter dem Titel "My Lord,What a Morning".
Marian Anderson starb am 8.April 1993 und hinterließ zahlreiche wundervolle Plattenaufnahmen,die ihre einzigartige Stimme bis heute bewahrt haben.
Quelle:"Große Sänger unserer Zeit" von Kurt Pahlen & Klaus Gerlach
Autor:Klaus Gerlach aus Recklinghausen |
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