Bauarbeiten legen historische Fundstücke frei

Zeugnisse der ehemaligen „Fillerei“ in Recklinghausen: Dutzende von Knochen und Zähnen diverser Haustiere. Foto: Stadt Recklinghausen
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Für den Bau der Recklinghausen Arcaden müssen neben dem Abriss des alten Löhrhof-Centers auch zentnerweise Bodenschichten abgetragen werden. Dabei haben die Arbeiter auf der Fläche des einstigen Parkplatzes zwischen Löhrhof- und Hermann-Bresser-Straße zahlreiche historische Schätze freigelegt: neben einer vergleichsweise jungen „Zeitkapsel“ unter anderem auch einen Grabstein, Tierknochen und Keramikreste. Zwar war bereits aus historischen Karten und Archivalien bekannt, dass sich in dem Bereich in der Vergangenheit verschiedene Örtlichkeiten wie der namengebende Löhrhof befunden hatten, aber erst die jetzigen Bodenfunde liefern den eindeutigen Nachweis.

Das jüngste der entdeckten Objekte ist gerade ein halbes Jahrhundert alt und birgt zahlreiche Dokumente: eine „Zeitkapsel“ aus dem Jahr 1963. Sie wurde bei der Grundsteinlegung eines Erweiterungsbaus des Bitter-Verlags vergraben. Der Gebäudekomplex des Recklinghäuser Verlags, der unter anderem auch Werke von Günter Wallraff sowie den „Kleinen Hobbit“ von J.R.R. Tolkien verlegte, wurde nach dem Umzug an den Wilhelm-Bitter-Platz 1974 komplett abgerissen. „Die jetzt entdeckte Zeitkapsel, eine Kupferschatulle, enthält neben verschiedenen Zeitungsartikeln und Bauzeichnungen auch eine Kalligrafie, unterschrieben von den damaligen Bauherren, Wilhelm und Käthe Bitter, sowie deren vier Söhnen“, sagt Arno Straßmann, ehrenamtlich Beauftragter für die Bodendenkmalpflege in der Stadt Recklinghausen.

Der großflächige Gebäudekomplex des einstigen Bitter-Verlags (vormals Vestische Druck- und Verlags AG) wurde dort errichtet, wo sich einst der „Löhrhoff“ – korrekt mit doppeltem „f“ – befand. Der Standort des Gebäudes ist identisch mit einem historisch belegten Beginenhaus. Beginen nannte man seit dem 13. Jahrhundert die weiblichen Mitglieder einer ordensähnlichen, christlichen Laiengemeinschaft. In Recklinghausen existierten im Jahre 1305 zwei Beginenhäuser, das obere und das untere Beginenhaus. Letzteres wurde auch „Haus der Jungfrauen van Stoveren“ oder „niederstes Beginenhaus“ genannt. Dieses niederste Beginenhaus, bereits im Jahre 1300 erwähnt, erhielt erst viel später den Namen „Löhrhoff“. „Die Errichtung der Verlagsgebäude hat leider alle Spuren der älteren Vergangenheit verwischt“, sagt Denkmalexperte Straßmann, „im Norden der Baugrube wurden deshalb keine Belege aus der „Beginenzeit“ entdeckt.“

Ein weiterer Fund sorgte zunächst für einige Aufregung: Der freigelegte Grabstein erwies sich jedoch nicht als Teil einer Erbbegräbnisstätte. Der aus dem Jahre 1932 stammende Stein wurde nach Ablauf der Ruhefrist von den Hinterbliebenen in Erinnerung an eine früh Verstorbene vom Friedhof in den eigenen Garten gebracht. Dieser Garten und das zugehörige Wohnhaus gehörten knapp 180 Jahre zuvor dem „Nachrichter“ Schlieff. Nachrichter ist die hiesige verharmlosende Bezeichnung für den Scharfrichter. Zugleich war Schlieff auch als Wundarzt und als „Filler“ tätig. Der Filler war der städtische Abdecker, der sich um die Beseitigung und Verwertung der anfallenden Tierkadaver kümmern musste. An die Stätte der ehemaligen Abdeckerei im Süden der Altstadt erinnert noch die Bezeichnung „Fillerei“ in der Urkatasterkarte Recklinghausens von 1822.

Überreste der ehemaligen Fillerei konnten jetzt archäologisch dokumentiert werden: Hunderte von Knochen und Zähnen von Rind, Pferd, Schwein und Schaf wurden im Zusammenhang mit der „Arcaden“-Baustelle geborgen. Ebenfalls gefundene zeittypische Gefäßscherben beweisen, dass die Abdeckerei viel länger existierte, als bisher vermutet. Die ältesten entdeckten Scherben stammen aus dem ausgehenden 13. Jahrhundert: Zu diesem Zeitpunkt lag die „Fillerei“ noch außerhalb der ersten Stadtmauern. Da weder der Beruf des Abdeckers noch der des Scharfrichters sozial geachtet war, lebte dieser stets im entlegensten Teil der Stadt.

Die gleiche Aussage gilt für einen unmittelbar westlich der Abdeckerei gelegenen Teich. Auch das im Volksmund als „Eick’scher Gerberteich“ bekannte Gewässer, benannt nach Franz Heinrich Joseph Eick, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Recklinghausen eine große Lohgerberei betrieb, ist deutlich älter als angenommen und wurde vermutlich um das Jahr 1300 angelegt. Die Gerber nutzten auch die in der Fillerei anfallenden Tierhäute: Mit Hilfe der aus Eichenrinde gewonnen Gerbstoffe, der Gerberlohe, wurden tierische Häute und Felle zu Leder weiterverarbeitet. Im norddeutschen Raum ist die Bezeichnung „Löhr“ für den Lohgerber gebräuchlich. Von diesem Berufszweig leitet sich der Name „Löhrhof“ ab. Im Randbereich des Gerberteiches wurden Keramikreste, zahlreiche Holzstücke sowie Abfälle der Lederverarbeitung (Schuhsohlen, viele Lederbändchen) gefunden.

In einer sogenannten „Kulturschicht“ im weiteren Umfeld der Fundstätten wurden zudem Reste von Gefäßen freigelegt, die zum Großteil dem 14. und 15. Jahrhundert entstammen („Siegburger Steinzeug“). „Vor dem großen Stadtbrand von 1500 scheint das Gebiet des Löhrhofs stärker besiedelt gewesen zu sein, danach ist ein deutlicher Siedlungsrückgang feststellbar“, sagt Straßmann.

Völlig überraschend zeichnete sich bei den weiteren Baggerarbeiten auf Höhe der Kaiserwall-Passage neben dem „Still’schen Gebäude“ im Untergrund ein „Grabensystem“ ab. Der maximal fünf Meter breite Graben wurde einseitig durch Eichenpfähle mit Brettern gesichert. Ziel und Zweck der Anlage sind momentan noch ungeklärt. Zur Auflösung wurde Mark Schrader vom „LWL – Archäologie für Westfalen“ in Münster hinzugezogen, der das „Grabensystem“ einmaß und wissenschaftlich dokumentierte. Dazu wurden auch einzelne Eichenpfähle zur Bestimmung ihres Alters (dendrochronologische Untersuchungen) entnommen. Ergebnisse sollen frühestens im Herbst 2012 vorliegen.

Der Graben lag in unmittelbarer Nähe der ehemaligen „Jesuiterei“, steht aber mit dieser in keinem historischen Zusammenhang. Die Jesuiten-Mission wurde erst 1692 durch die Stiftung der Recklinghäuserin Maria Theresia Pinkernell ins Leben gerufen, aber bereits 1792 wieder aufgehoben. Am 11. März 1942 wurde das einstige Jesuitenhaus durch einen Bombentreffer völlig zerstört, eventuell noch verbliebene Relikte im Boden scheinen spätestens mit dem Bau des mittlerweile komplett demontierten Stadthauses F verlorengegangen zu sein.

Autor:

Lokalkompass Recklinghausen aus Recklinghausen

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