Text aus Ratingen zum Ukraine-Konflikt
"Ich bin ein Kriegskind"
Klava Leybova, in der Kiew geboren und heute in Ratingen lebend, ist über den Krieg in der Ukraine zutiefst erschüttert. Sie hat dazu diesen bewegenden Text geschrieben:
"Ich bin ein Kriegskind. Ich erinnere mich nicht an das Gesicht meines Vaters. Als er ging, um zu kämpfen, war ich drei Jahre alt. Er wurde im Krieg getötet.
Ich bin ein Kriegskind. Lange danach träumte ich von Bombenexplosionen. Es war wahrscheinlich, als unser Zug bombardiert wurde. Ich konnte mich nicht wirklich daran erinnern, aber die Angst blieb bestehen und brachte diese absolut sichtbaren und hörbaren Träume hervor.
Ich bin ein Kriegskind. Lange danach hatte ich ständig geschwollene Drüsen, eine positive Pirquet-Reaktion und die Angst meiner Mutter vor Tuberkulose.
Ich bin ein Kriegskind. Meine Mutter, Anfang dreißig, rettete unsere vaterlose
Familie – mich, meine Schwester, meine alte Großmutter – indem sie aus Kiew floh.
Was es sie gekostet hat, ist mir erst mit dem Erwachsenwerden klar geworden.
Und nicht einfach so, sie starb im Alter von dreiundfünfzig Jahren.
Ich bin ein Kriegskind. Das hat mich wahrscheinlich nicht sehr wählerisch beim
Essen gemacht. Auch jetzt kann ich plötzlich Sonnenblumenöl in eine Untertasse
gießen, mit Salz bestreuen und es mit Schwarzbrot und gerne essen. Wie in meiner
Nachkriegskindheit. Das Öl damals war duftende, echte Sonnenblumenöl, gekauft von Moldauern auf dem Bessarabischen Markt. Mit Salz bestreut…
Ich bin ein Kriegskind. Und deshalb weiß ich einfach nicht, wie ich überleben soll, was diese Bastarde in meinem Land und in meiner Stadt tun. Und ich weiß nicht, wie ich meinen Freunden helfen soll, vor allem meinen Altersgenossen, die dazu bestimmt sind, diesen Horror zum zweiten Mal zu durchleben. Es spielt keine Rolle, dass sie das erste Mal Kinder waren. Es spielt keine Rolle, ob sie sich an das Heulen einer Sirene erinnern, das Heulen eines vorbeifliegenden Flugzeugs, aus dem eine Bombe auf Ihren Zug fällt, um Sie zu töten. Das alles Mensch trägt in sich, und in solchen Momenten wie heute erlebt er immer wieder - dieses Heulen und dieses Gebrüll und seine völlig wahnsinnige kindliche Angst.
In der Ukraine sagen wir „Stare jak male“. Es bedeutet - Alte Menschen sind wie kleine Kinder. Und ich, alte Frau, jetzt wieder - ein Kriegskind."
Autor:Martin Poche aus Düsseldorf |
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