„Und dann bin ich einfach gegangen“ - Hildegard Schmidt erzählt uns „ihre Geschichte“

„Ich sehe den Tisch noch vor mir, als wäre es gestern gewesen. Er ist gedeckt, das Porzellan akkurat angeordnet, ich hatte ihn selbst gedeckt. Als ich ihn betrachtete, wusste ich, dass ich in nur wenigen Augenblicken zu meinem Zimmer schleichen würde - es war mein erstes eigenes Zimmer -, mein Geld nehmen würde und nie wieder zurückkehren würde.

Ich wusste, dass ich diesen Moment nie vergessen, vielleicht bereuen aber niemals ändern würde“, erzählt mir Hildegard Schmidt mit einem wehmütigen Blick im Gesicht.
Hildegard Schmidt ist 79 Jahre alt, der Moment, den sie beschreibt, liegt 64 Jahre zurück. Damals war sie 15 Jahre alt, aufgewachsen in einer sechsköpfigen Bergarbeiterfamilie in Lintfort.

„Ein zierliches Persönchen“, sagten sie, mit ihren 38 Kilo viel zu schwach, um körperlich zu arbeiten. Und dennoch kam sie auf einen Hof in Geldern, unweit von ihrem Zuhause, wo sie ein Jahr arbeiten sollte, um ihr praktisches Jahr, das für den Abschluss auf der hauswirtschaftlichen Schule notwendig war, zu absolvieren.
Genau dieses eine Jahr fehlte Hildegard, damit sie sich ihren einzig wahren Traum, die Ausbildung zur Säuglingsschwester, erfüllen konnte. Vermittelt von einem Kostgänger namens Scholten, verließ sie das elterliche Haus. „Wenn ich heute an diesen Menschen, der mich so unvorbereitet mitnahm, denke, läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Ich ekelte mich vor ihm. Warzen säumten sein Gesicht, er nahm uns Kinder und setzte uns auf seinen fetten Leib, der sich nach einem Leistenbruch nach außen wölbte. Als er mit seiner prall gefüllten Aktentasche das Gut verließ, sah ich, wie Kartoffeln, Eier und Speck sich in der Tasche wölbte. Niemals habe ich mich so elend gefühlt, verkauft für ein paar Eier und für diesen einen Moment hasste ich meine Mutter.“

Auf dem Hof wurde Hildegard mit den üblichen Tätigkeiten betraut, Tisch decken, Kannen auswaschen und Geschirr spülen. „Ich wurde gut behandelt, keine Frage und der Anblick meines ersten eigenen Zimmers erfüllte mich für eine Sekunde mit Stolz - zuhause schliefen wir zu viert in einem Zimmer. Doch als ich am ersten Abend dasaß, zeriss mich mein Heimweh, der Schmerz, das Fehlen meiner Familie und ich weinte stundenlang. Am nächsten Tag durfte ich mit dem Rad nach Hause fahren, doch als ich mich am Abend wieder in meinem Zimmer fand, wusste ich nicht ein noch aus vor Schmerz.“ Und dann wieder diese Erinnerung an den gedeckten Tisch, an den einen Moment, wo sie entschied, alles hinzuschmeißen, der Weg bis zum Tor, der bellende Hund, der ihr hinterherrannte und dann dieses unendliche Gefühl von Befreiung. „Ich wollte nie wieder dorthin zurückkehren.“

14 Tage später holte ihr Onkel die verbliebenen Sachen ab, die Gutsbesitzerin hatte alles bereits gepackt und lächelte milde als sie sagte, „Ich wusste, dass sie nicht bleiben würde, nur Geld kann ich ihr keines geben.“ Hildegard Schmidt ging nicht mit hinein, sie stand hinter dem großen Baum vor den Toren und wartete. Später sollte sie dann in den Haushalt einer Beamtenfamilie in Lintfort. „Sie können sich nicht vorstellen, was das für ein Standesdünkel war. Die ,Dame des Hauses‘ war von einer Arroganz getrieben, dass meine Mutter mich an die Hand nahm und sagte: „Mein Kind, da musst du nicht hin“. Später habe ich dann in einer Fabrik in Krefeld gearbeitet, es gab 90 Mark im Monat, von den noch zwölf Mark für die Fahrkarte abgezogen wurde.“
Auf die Frage, was wäre wenn, sinkt sie unmerklich in sich zusammen.

Gedankenverlorene Stille erfüllt den Raum. „In diesem einen Moment hat sich mein ganzes Leben verändert. In diesem einen Moment habe ich meinen Traum verloren, in diesem einen Moment war meine Zukunft geschrieben.“

Noch heute steht der große Baum an der selben Stelle und immer wenn Hildegard Schmidt hier vorbeifährt, hält sie inne, vielleicht genauso lang, wie damals, als sie da stand, den Tisch betrachtete und ging.

Autor:

Regina Katharina Schmitz aus Dinslaken

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