Nach dem Krieg ist es noch lange nicht vorbei

Ein seltsames Phänomen ist das mit den Erinnerungen. Sie fließen zusammen in einem Gefühl, das einzig den Sprung in der Zeit  zulässt.
  • Ein seltsames Phänomen ist das mit den Erinnerungen. Sie fließen zusammen in einem Gefühl, das einzig den Sprung in der Zeit zulässt.
  • hochgeladen von Regina Katharina Schmitz

Wer hat behauptet, dass mit dem Krieg das Leiden aufhört? Es ist gelogen. „Mein Vater kam aus Russland zurück, seine Beine halb erfroren, untauglich, der Krieg hatte ihn verheizt. Er war ein gebrochener Mann.

Dann orderte man ihn in den Norden, in die Nähe von Kiel, er sollte in der U-Boot-Werft die elektrischen Anlagen der U-Boote in Stand setzten, meine Mutter folgte ihm“, erzählt mir Ulrike R., während sie die Tränen nicht zurückhalten kann. So tief sitzt der Schmerz, ein seltsames Gefühl von Wehmut, durchsetzt von Dankbarkeit. Dankbarkeit? Ja, denn in all ihrem Erzählen, in all ihren Erinnerungen liegt immer auch das Glück verborgen. Wie viele Frauen warteten vergeblich auf die Heimkehr des Mannes, wie viele Kinder fragten immer wieder nach Papa, aber Papa kam nicht – Ulrike kam bei Kiel zur Welt, Januar 1945, Kriegsende.

Als die Familie zurück nach Kamp-Lintfort-Hoerstgen kam, war ihre Wohnung ausgeräumt, Flüchtlinge hausten in den Räumen, der Krieg hatte ihnen auch das Zuhause genommen. Die Kriegsverletzungen nahmen Ulrikes Vater jede Chance auf eine Arbeitsstelle, „heute würde man transplantieren, aber damals gab es nicht einmal Crèmes, die man auf die verwundeten Stellen auftragen konnte. Immer wieder rissen die Beine auf und bluteten, ich habe es nie vergessen.“

Ulrike R.‘s Mutter tat was sie konnte. Selbst untergewichtig, in ständiger Angst um das Überleben ihrer Kinder, fuhr sie mit einem Korb voll Speck mit dem Fahrrad nach Duisburg Ruhrort, tauschte die vom Bauern erhaltenen Lebensmittel gegen eine Hand voll Kupfer und fuhr zurück. Eine mühsame Arbeit, die den Unterhalt der Familie nur so eben sicherte. Mit dem getauschten Kupfer reparierte Vater die Traktorenmotoren der ansässigen Bauern: der Lohn: eine Handvoll Essen. Gerade so eben, um die Kinder satt zu kriegen, oder das, was man gewöhnt war und dem Gefühl des Sattseins zuordnete.

„Diejenigen, die gar nichts hatten, kein Eigentum, das waren die Ärmsten. Schuster, Schmiede, Bauern, sie konnten tauschen, um sich zu versorgen, wir, wir hatten nichts zum tauschen, wir hatten nur uns.“ Immer wieder sehe ich den Schmerz in den Augen, dieses große Gefühl, jene Sensibilität, die nur wenige Seelen haben, die auch die kleine Ulrike bewegten, ihren eigenen Weg zu gehen.

Mit neun Jahren viel zu schwach und zu jung für die körperliche Arbeit auf dem Felde, bat sie dennoch um eine Anstellung während der Saison. „Ich war unheimlich flink und sammelte auf dem Feld selbst die liegengebliebenen Kartoffeln auf. Ja, ich war so stolz, als ich das erste Geld mit nach Hause brachte.“

Aus den Saisonarbeiten entwuchs eine ganzjährige Tätigkeit bei einem Bauern. Ihre Tätigkeit: Krüge waschen, Feldarbeit, Kartoffeln schälen, Hof fegen und Milchküche reinigen. Auf die Frage, was sie angetrieben habe, diese Tätigkeit auszuüben, ein bescheidenes Lächeln voller Demut. „Einmal, ich kann nicht genau sagen, wann es war, hatte mein Vater im üblichen Prozess einen Traktor repariert. Meine Mutter war weite Strecken gefahren, es war unglaublich zeitintensiv und anstrengend gewesen, als am Abend der Bauer kam, um den reparierten Traktor abzuholen. In seinen Händen hielt er den Lohn für die Arbeit: eine Kanne Milch. Diese Demütigung, dieses Fehlen an Wertschätzung brachte meine Mutter an den Rand der Verzweiflung. Sie nahm die Kanne Milch, übergoss den Bauern mit selbiger und stieß ihn die Treppe rücklings hinunter. Dieses zierliche Wesen, ich kann es heute noch nicht verstehen, woher sie die Kraft nahm, war so außer sich, dass sie nach dem ersten Treppenabsatz ihn immer wieder stieß. Immer wieder, immer wieder. In meinem Leben habe ich nie wieder so eine Verzweiflung gesehen.“

Das war wohl der Moment gewesen, wo sie entschieden haben mochte, das geben zu wollen, wozu sie im Stande war. Eine Mark gab es pro Stunde. Morgens ging sie in die Schule, danach fünf Stunden arbeiten, abends machte sie ihre Hausaufgaben. „Was bedeutet Kindheit für Sie“, will ich wissen, Ulrike R. schweigt.

„Können Sie sich vorstellen, was es bedeutet, wenn man an einem reich gedeckten Tisch sitzt, und essen kann, soviel man mag? Es war ziemlich zu Beginn meiner Arbeit, der ich über das ganze Jahr nachgehen durfte. Alle Knechte, alle Mägde, die ganze Bauernfamilie saßen an einem Tisch. Der Tisch war unglaublich groß, jedenfalls kam es mir so vor. Ich war die Jüngste und etwas schüchtern, als das passierte, was ich bis heute nicht vergessen habe. Sie werden lachen, aber für mich war es einer der nachhaltigsten Eindrücke, die mir meine Kindheit bescherte. Wir saßen zu Tisch und das Essen wurde aufgetragen. Vor mir stand eine Pfanne, groß wie ein Karrenrad, voll mit frischem Rührei. Ich hatte noch nie in meinem Leben Rührei gegessen. Der Duft von frischem Ei, Schnittlauch, meine Augen müssen riesengroß gewesen sein. Ich nahm einen kleinen Löffel, viel zu bescheiden, um zuzuschlagen, bis der Bauer seiner Frau auf Platt auftrug, sie solle mir mehr auftun. In meinem Leben war ich noch nie so satt und dankbar gewesen, wie an diesem einen Abend.“

Waren ihre Eltern nicht wahnsinnig stolz auf sie, frage ich Ulrike R., sie hält inne. „Nicht eine Sekunde in meiner Kindheit hat man von mir erwartet, dass ich Geld verdiene. Im Gegenteil. Ich glaube, dass gerade mein Vater darunter gelitten hat, dass er seiner kleinen Tochter nicht mehr vom Leben hat bieten können. Er wollte nicht, dass ich so früh arbeite, aber die 15 Mark am Ende der Woche haben uns durchgebracht.“

60 Jahre sind seitdem vergangen und vor mir sitzt eine aufrechte Frau, die sich noch heute nicht zu schade ist, mit anzupacken. Wenn ich sie betrachte, sehe ich ein Lachen in ihrem Gesicht, das vielmehr beinhaltet, als nur das Wissen um eine mühsame Kindheit. Es ist die Fähigkeit zu erkenne, wann einem Glück widerfährt. „Dieser Bauer hätte jeden anderen einstellen könne, stärker, größer kräftiger. Hat er aber nicht. Er hat mich nie in meinem Tun beschämt und auch wenn ich jeden Abend weinte und aus Erschöpfung schwor, nie wieder zu kommen. Das, was er getan hat, war ein Dienst an der Menschlichkeit, er ging nicht in die Kirche, und doch war er mehr Christ als viele anderen.“

Autor:

Regina Katharina Schmitz aus Dinslaken

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