Für mehr Humanität in der Altenpflege
Die Würde des Menschen ist unantastbar, heißt es im Grundgesetz. Doch wie ernst ist es uns mit diesem Grundpfeiler unseres humanitären Verständnis? Wie ernst nimmt unsere Gesellschaft den Begriff Würde?
Gerade im Alter bekommt diese Thematik eine ganz besondere Relevanz. Denn wenn Menschen beginnen an kognitiven Fähigkeiten einzubüßen, mehr und mehr auf die Hilfe anderer angewiesen sind, ist ein Begriff wie Würde auch eine Frage von Vertrauen. Vertrauen auf Menschlichkeit, auf Respekt und fachliche Kompetenz.
Dies sind die zentralen Begriffe, die Cem Colak, Dozent am Pflegeseminar in Kamp-Lintfort, Initiator des Betreuungskonzeptes „Nonna Anna“ an ausländischen Pflege-instituten und Querdenker im Bereich der lehrenden Altenpflege, immer wieder hochhält.
Angefangen hatte alles mit einer studienbegleitenden Hausarbeit, die sich mit dem pädagogischen Betreuungskonzept „Nonna Anna“ beschäftigte (das Wochen-Magazin berichtete). Ein Konzept, das auf den Lehren Maria Montessoris basiert. Wer nun glaubt, das sei doch nur was für Kinder, der irrt.
Denn gerade bei Patienten, die an Demenz erkrankt sind, bietet die Beschäftigung mit eigens für dieses Konzept gefertigten Materialien, die Möglichkeit, Menschen sinnvoll und aktivitätsfördernd zu beschäftigen. Isolation und Leere, stumpfe Berieselung oder inhaltsloses Warten treten in den Hintergrund und machen non-kommunikativer geistiger Stimulans Platz. Was dies für eine Auswirkung auf Betroffene hat, zeigt das Pilotprojekt, das Cem Colak in einem Pflegeheim im türkischen Soma, mit Hilfe von türkischen Fördergeldern von umgerechnet 65.000 Euro bereits umgesetzt hat.
Der zweifache Familienvater reiste monatlich für vier Tage in das türkische Heim und schulte dabei an die 120 Mitarbeiter. „Die Zustände in der Türkei sind mit den hiesigen nicht zu vergleichen. ‚Satt und sauber‘ ist da nur ein Schlagwort.“ Was Colak damit meint, ist das rudimentäre Verständnis von Altenpflege und Betreuung. „Auch ein alter oder kranker Mensch muss sinnvoll betreut und vor allem beschäftigt werden, um das seelische Gleichgewicht zu halten und die Fertigkeiten, die er noch besitzt, möglichst lange zu erhalten.“ Berieselung durch permanent laufende Fernseher ist das schlechteste, was man tun kann. Denn die Unterforderung führt zu Frustration und Aggression. Was daraus folgt sind Verhaltensauffälligkeiten, die das „Wegsperren“ dieser Menschen erfordert. Ein fataler Fehler, denn mit der richtigen Anleitung ist solch eine menschenunwürdige „Isolationshaft“ gar nicht notwendig. Gezeigt hat dies die Studie, die als wissenschaftliche Evaluierung des Projektes die praktische Umsetzung begleitete. Von insgesamt 18 Menschen, die in Soma auf Grund auffälligen Verhaltens isoliert gepflegt wurden, konnten sieben Heimbewohner in die „normale“ Pflegegruppe reintegriert werden. Die restlichen elf Menschen müssen trotz weiterhin gesteigerter Betreuung nun nicht mehr hinter verschlossenen Türen ausharren, sondern können sich frei in den neu gestalteten Räumen aufhalten. Aus der geschlossenen Intensivstation ist der „Nonna Anna-Wohlfühlwohnbereich“ geworden. Farben geben den Räumen Gemütlichkeit. Individualisierte Pflegebetreuung sorgt für ein angenehmes Klima und Beschäftigung. Patienten und auch Angehörige sprechen von einem Unterschied wie Tag und Nacht. Denn Basistools wie die Aufnahme der Anamnese, personalisierte Biografiebögen kannte das türkische Pflegeheim nicht.
„Wenn man weiß, dass ein Patient gerne klassische Musik hört, ist das zum Beispiel eine wichtige Information für das betreuende Personal. „Man muss einfach wissen, wie man Menschen helfen kann. Die Lebensgeschichte gibt uns den meisten Aufschluss darüber, was die Bedürfnisse eines Menschen sind. Erst wenn wir diese Daten erfassen, können wir die Maßnahmen treffen, die zu einer individualisierten und menschenwürdigen Pflege dazugehören. Die haptische wie kognitive Beschäftigung mit Materialien geben den Demenz-Erkrankten eine Sinnhaftigkeit und Beschäftigung, die nachhaltig zu Zufriedenheit und ausgelastet sein führt“, so Colak weiter. Und auch die Studie belegt diese Annahme. Bei der Evaluation wurde unter diesem Betreuungskonzept eine Aktivitätssteigerung von 30 Prozent gemessen. Die Entlastung der Heimmitarbeiter wurde mit 17 Prozent bemessen. Denn ein glücklicherer Patient erleichtert auch den Mitarbeitern und den Angehörigen das Leben.
Wer nun glaubt, dies wäre das Ende jener Erfolgsgeschichte, der kennt Cem Colak nicht. Denn warum sollten nicht auch die deutschen Pflegeheime von dieser Neuerung im Pflegealltag profitieren?
Das von Bianca Mattern erstmals in Neustift etablierte Pflegekonzept Nonna Anna ist universal anwendbar, da der Mensch als solcher im Vordergrund steht. Weder kulturelle Tradierung noch andere divergierende Faktoren können von dem Faktum ablenken, dass in der Pflege der Mensch und dessen rudimentäre Bedürfnisse im Vordergrund stehen. Aus diesem Grund schrieb Colak kurzer Hand ein komplett neues Unterrichtshandbuch, nach dem er die Schüler am Fachseminar für Altenpflege in Kamp-Lintfort unterrichtet.
„Der Theorie-Praxis-Transfer ist dabei von entscheidender Bedeutung. Man muss die akademischen Grundlagen begreifen und anhand ihrer die Wirklichkeit des Alltags substanziell anpassen. Ohne das Verständnis, ohne die Philosophie des Konzeptes wäre jede Bemühung inhaltslos.“
Ein Grund, warum die dreijährige Ausbildung am Fachseminar für Altenpflege in Kamp-Lintfort im ersten Jahr die theoretische Fundierung fokussiert. Im zweiten Jahr entwickeln die Schüler eigenständige Nonna Anna-Materialien, die dann mit den Kooperationsinstituten, dem St. Josef Haus und der Caritas-Sozialstation in Kamp-Lintfort, empirisch validiert werden.
„Letztendlich ist dieser Praxistest die entscheidende Phase, ob das Konzept greift oder nicht“, so Heimleiter Matthias Labza. „Wir haben keine konkrete Erwartungshaltung, was das Konzept angeht. Grundsätzlich sind wir immer für Neuerungen im Pflegesystem offen. Genau deswegen unterstützen wir diese Experimentierphase. Qualitativ und wirtschaftlich muss es hochwertig sein, die Praxis muss uns einfach überzeugen.“
„Wenn ein Mensch sein Leben lang erst gegen zehn aufgestanden ist, warum sollte er dann nun hier um acht aufstehen und frühstücken?“, fragt Pflegedienstleiter Christian Schlebusch und findet ein überzeugtes Lächeln in meinem Gesicht. „Bei uns genießen die Menschen größt mögliche Freizügigkeit in ihrer persönlichen Tagesgestaltung.“ Eine Einstellung, die sich im ganzen Haus auch räumlich wiederspiegelt. Die Gänge sind breit und hell, die Flure lichtdurchflutet, die Einrichtungen mit unglaublich vielen Details gestaltet, dass meine anfänglichen Beklemmungen bei dem Gedanken an den Besuch eines Pflegeheimes wie weggeblasen sind. Die einzelnen Zimmer sind individuell dekoriert und den Heimbewohnern liegt ein freundliches Lächeln im Gesicht. Keine Spur von „Endstation Pflegeheim“, stattdessen gemeinsames Mittagessen, Gespräche und die Beschäftigung mit den Nonna Anna-Materialien, wozu unter anderem spezielle Bildkarten gehören. „Gerade die Bildkarten sprechen die Patienten besonders an“, so die Leiterin der Sozialstation der Caritas, Stephanie Putzke. Denn auch hier wird bei den ambulant zu Pflegenden mit entsprechenden Materialien gearbeitet. „Die Karten eröffnen uns einen Weg zu den Menschen. Ihre Fähigkeiten werden aktiviert, sie finden Schritt für Schritt zurück zu mehr Eigenständigkeit.“ Was das in der Umsetzung bedeutet, ist kurz erklärt. „Schon allein die Tatsachen, dass ein Patient auf einmal wieder in der Lage ist, seine Kleidung eigenständig auszusuchen oder sein Essen auszuwählen, sind kleine Schritte hin zu mehr Selbestbestimmung“, so Putzke weiter.
Ein Mensch, der sich erinnert, erinnert sich an sich selbst. Ein Mensch der sich erinnert, findet Worte, ein Mensch, der sich erinnert, beginnt zu kommunizieren. Erinnerung ist Leben, Sprechen ist Nähe zu anderen Menschen, Kontakt und soziale Interaktion ist Menschlichkeit.
Das dritte Ausbildungsjahr knüpft schließlich das Band zwischen Theorie und Praxis. Zusammen mit der AWO-Begegnungsstätte erzählen die Schülerinnen von Veranstaltungen wie Mittagsbuffet oder generationsübergreifenden Karnevalsfeiern. Ihre Erfahrungen zeigen, wie gut das neue Konzept sich in die Lebenswirklichkeit der Demenzerkrankten einbringt. „Gerade das Arbeiten mit visuell stimulierenden Materialien kommt sehr gut an. Dabei haben wir zum Beispiel in Kartenspiele Fehler eingebaut, die gefunden werden sollen. Das trainiert das geistige Vermögen und macht gleichzeitig Spaß“, so Pflegeschülerin Anja Ingenillem.
Kein Wunder also, dass Cem Colak auch über den Niederrhein hinaus Spuren hinterlassen hat: Akin Koyuncu, Privatbetreiber dreier Pflegeheime in Ankara, ist an der Nonna Anna-Zertifizierung seiner Heime interessiert. Zu diesem Zwecke kam er vor kurzem nach Kamp-Lintfort, um sich seinen eigenen Blick zu verschaffen. Was er vorfand, überzeugte ihn.
Auf die Frage, was seine Endbilanz anginge, schmunzelt Cem Colak: „Von Ende kann keine Rede sein, ich habe noch so viel vor.“
Ein Dozenten-Angebot der Universität Manissa hat er allerdings ausgeschlagen. „Leider ist die Türkei in Punkto Demokratie noch lange nicht da angekommen, wo sie sein sollte. Ein falsches Wort und man ist seinen Job los.“ So ging es nämlich auch dem Heimleiter in Soma. Die Ablehnung einer ihm zu radikal eingestellten Praktikantin führte zu seiner sofortigen Entlassung.
„Die guten Kontakte zwischen Bürgermeister und Angehörigen jener Bewerberin waren scheinbar so gut, dass man dort völlig willkürlich entschied“, so Colak weiter. Sein nächster Schritt: Ein Master-Studiengang im Bereich Berufspädagogik an der Universität Karlsruhe. Warum Karlsruhe? „Als einziges Bundesland hat sich Nordrhein-Westfalen dazu entschieden, den Bachelor-Abschluss im Bereich der Pflegepädagogik nicht als ausreichend anzuerkennen, um eine ganze Stelle in der Lehre zu übernehmen.“ Warum? Kopfschütteln. Das ist ein anderes Thema.
Autor:Regina Katharina Schmitz aus Dinslaken |
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