Die Entscheidung

Kurzgeschichte zum aktuellen Anlass

Sarah und Lara sind aufgeregt. Ihr Leben ist kurz davor, in eine neue Phase überzugehen. Sie trauen sich! Frau Seifert, die Leiterin des Standesamtes, holt das Blanko-Formular auf den Bildschirm:
„Ich muss Sie fragen, wen ich zuerst eintragen soll. Normal ist es ja immer der Name des Mannes. In so einem Fall, wie Ihrem, nehmen wir einfachheitshalber den Namen der älteren Person … Also?“ Sie hält abwartend die Finger über der Tastatur und lächelt die beiden an.
Die Frauen sind einen Moment sprachlos und schauen einander mit großen Augen an.
„Wann bist du geboren?“, flüstert Sarah in Laras Ohr.
„Keine Ahnung“, flüstert Lara zurück, „und du?“
Ein stummes Fragezeichen in Sarahs Gesicht ist ihr die Antwort. Dann sagt Sarah verlegen zu Frau Seifert: „Dürfen wir uns kurz beraten?“
„Ja natürlich, nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen. Im Flur wartet ja keiner mehr.“ Die Beamtin ist freundlich und lässt sich nichts anmerken, obwohl sie sich im Stillen köstlich amüsiert.
Draußen stürzt sich Sarah, die Ungeduldige, auf Lara: „Wieso weißt du es denn nicht?“
„Nun, ich kann mich nicht mehr an den Tag meiner Geburt erinnern – ist ja auch nicht verwunderlich“, antwortet Lara sarkastisch.
Sarah seufzt: „Meine Eltern kann ich auch nicht mehr fragen – die sind längst tot. Deine ja ebenso.“
„So ist es. Meine älteste Schwester könnte mir vielleicht helfen, aber du weißt ja ... die ist zwar nicht tot, dafür ich für sie – so gut wie. In welchem Krankenhaus bist du denn zur Welt gekommen, Sarah?“
„Hat mich nie interessiert. Und du?“
„Zu Hause, und meine Tante war die Hebamme. Aber das bringt uns jetzt auch nicht weiter. Also, bleibt nur eine Lösung – Freiwillige vor!“
Schweigen. Keine verliert einen Ton.
„Möchtest du nicht den Mann spielen, Lara?“ Sarahs Stimme ist zuckersüß: „Du hattest doch schon mal einen Mann und weißt, wie sie so sind.“
„Ich?! Bist du verrückt?! Ich werde doch kein Mann sein, hatte genug von dieser Spezies in meinem Leben!“
Sarah ist frustriert: „Das ist doch alles albern! Ich gehe jetzt da rein und sage das Ganze ab!“

Auf dem Weg nach Hause sitzt Sarah am Steuer. Sie zuckt zusammen, als Lara laut aufschreit: „Ha! Ich hab's – du bist der Mann! Du fährst gut Auto, und das können ja angeblich nur Männer.“
„Unsinn – du fährst genauso gut.“
„Du verdienst mehr, und wer das Geld nach Hause bringt, hat die Hosen an!“
„Du hast aber den sichersten Job, du bist Beamtin!“
„Du bist größer!“
„Und du trägst größere Schuhe!“
Nun gehen den Frauen die Argumente aus und sie verfallen wieder ins Schweigen.
Immer noch ohne jedes Wort betreten sie ihre Wohnung. Lara lässt sich in den Sessel fallen, Sarah geht in die Küche und kommt gleich wieder mit der Flasche Champagner in der einen Hand und zwei Kelchen in der anderen.
Lara hebt die Augenbrauen: „Warum denn das? Den Champagner wollten wir doch zur Feier des Tages trinken.“
„Tun wir doch auch! Ist das nicht zum Feiern – wir können uns nicht trauen, weil wir uns nicht entscheiden können?!“ Voller Zorn lässt sie den Korken knallen und schenkt ein: „Prost!“
Sie trinken einen Schluck. Sarah setzt sich auf die Couch und wendet sich von ihrer Freundin ab. Lara schaut nachdenklich vor sich hin. Minuten vergehen.
Dann wendet Sarah sich ihrer Partnerin zu und sagt versöhnlich: „Weißt du was? ... Du möchtest kein Mann sein, ich möchte kein Mann sein. Können wir denn nicht einfach Frauen bleiben, wie bisher?“
Laras Gesicht hellt sich auf. „Ich will unbedingt Frau bleiben!“ Lachend fügt sie hinzu: „Und zusammen mit Frau!“
Sarah und Lara fallen einander in die Arme und küssen sich.
Dann drehen sie sich zu mir um. „Dich brauchen wir jetzt nicht mehr. Schreib deinen verdammten Schlusssatz unter diesem idiotischen Text und verschwinde.“

Ich bin fassungslos. Immer das Gleiche – du als Autor strengst dich an, zerbrichst dir den Kopf, und endlich hast du sie – die Figuren deiner Geschichte! Du hast sie erschaffen, ihnen Leben eingehaucht, sie glücklich machen wollen, und was tun sie? Sie entziehen sich deiner Gewalt und nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand.
Ich bin machtlos, ich kann nichts mehr für die Zwei tun. Also was bleibt mir anderes übrig, als wie von Sarah befohlen, die letzten Wörter zu tippen? ...
Und so endet die Geschichte über Sarah und Lara, beide geboren am 13. März 1973, die sich doch nicht trauen, wie von mir vorgesehen, weil sie nicht wissen, wer zuerst an diesem Tag das Licht der Welt erblickte.
War wohl doch keine so gute Idee …
Was mich aber noch brennend interessieren würde … Wie haben die beiden sich überhaupt kennengelernt?

Die Kurzgeschichte gibt es auch als eBook bei BookRix

Autor:

Rosa Ananitschev aus Hemer

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