Der Frühling meiner Kindheit

Foto: Bildquelle: Mikhael Timofeev / pixelio.de

Der Winter meiner Kindheit war lang, sehr lang und Schnee gab es mehr als genug. Besonders die Straße, in der unser Haus stand, war davon betroffen. Das lag daran, dass der Nordwind quer darüberfegte und große Verwehungen hinterließ. Es gab keinen Räumdienst, so wie man ihn heute kennt, die Schneeberge wuchsen und wuchsen, sodass bald kein Fahrzeug mehr durchkommen konnte.

Allerdings will ich nicht über diese kalte Monate erzählen, sondern mich an die Zeit erinnern, die den Winter irgendwann langsam, aber sicher ablöste – den sibirischen Frühling. Er war für mich als Kind ein grandioses, aufregendes Ereignis.

Schon Ende Februar suchte ich nach den ersten kleinen Zeichen, die mir verrieten, dass der fast vier Monate andauernde Winter bald vorbei sein würde. Die Schneeschmelze war nicht unbedingt ein Zeichen dafür, denn die setzte bei diesen enormen Schneemassen kaum merklich ein. Es war das, was ich mehr ahnte und fühlte: Die Sonnenstrahlen wurden intensiver, das Gezwitscher der Vögel hörte sich anders an – lebhafter, fröhlicher. In der Luft spürte ich den ganz besonderen Duft des warmen Schnees. Nun wusste ich – ja, es ist so weit, die Natur wird langsam aus ihrem Schlaf erwachen.

Aber es war ein langer Prozess und ich musste viel Geduld aufbringen, bis ich merkte, dass der Schnee schwerer, feuchter wurde. Im März begannen dann die weißen Berge sich zu setzten, darunter bildeten sich Bäche und Ströme aus Tauwasser, die sich den Weg ins Freie suchten. Ab einem gewissen Zeitpunkt wurde es gefährlich, die Schneehügel zu erklimmen und Schlitten zu fahren – man konnte leicht einbrechen und kam dann ohne Hilfe nicht mehr heraus. Davor, im Schnee gefangen oder darunter begraben zu werden, hatte die kleine Rosa schreckliche Angst.

Das Tauwasser war auch nicht ’ohne‘. Nicht immer besaß ich Gummistiefelchen und Galoschen – auf die Filzstiefel gezogen – nutzten wenig.

Es war natürlich nicht einfach, bei solchen Verhältnissen von A nach B zu gelangen. Erst hielt man Ausschau nach fest getrampeltem Schnee dicht an den Gartenzäunen, betrat den ’Pfad’ dann ganz vorsichtig, jederzeit bereit, sich an den Zaun zu klammern. Da, wo der Pfad von breiten Pfützen unterbrochen wurde, galt es, besonders aufmerksam zu sein. Meistens warfen die Erwachsenen Steine und Bretter so in und über die gefährlichen Stellen, dass man von einem zum anderen springen bzw. auf den Brettern laufen konnte. Für Kinder mit ihren kleinen Schritten war das allerdings eine schwierige Herausforderung.

Der Höhepunkt des Frühlings war für mich stets der Moment, wenn ich an der Südseite des Hauses oder Schuppens einen schwarzen Fleck Erdboden entdeckte. (Man muss sich vor Augen halten, dass so etwas im tiefsten sibirischen Winter nicht vorkam. Es gab keine einzige Stelle da draußen, die nicht vereist, zugeschneit oder mit Schneeverwehungen bedeckt gewesen wäre). Nun wusste ich – es ist endlich soweit, die Sonne richtet für mich wieder ein Plätzchen ein – mein Plätzchen! Sobald die Fläche groß genug war, holte ich mir ein paar Armvoll Heu, das einmal so herrlich nach Sommer geduftet hatte, und machte es mir mit Tagebuch und Stift oder mit einem Buch im Sonnenbad gemütlich. Nach einer Weile legte ich sogar den Wintermantel ab, so warm wurde mir allmählich. Dieses sonnige Fleckchen inmitten der noch herrschenden Kälte war einer der wenigen Zufluchtsorte in meiner Kindheit, ein Ort zum Lesen, Träumen, Nachdenken und Schreiben. Ein Ort, an dem ich mich gut fühlte.

Autor:

Rosa Ananitschev aus Hemer

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