"Andersrum" - Making of

Cover: Detlef Klewer
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Es sollte eine Kurzgeschichte zu einem Bild werden … eines, auf dem ein kleines Mädchen eine riesige, in die Erde eingepflanzte, leuchtende Glühbirne bestaunt. Eine Mischung aus Fantasie und eigenen Kindheitserlebnissen – zunächst als abgeschlossene Geschichte auf einer Internetplattform.
Im Mittelpunkt steht die kleine Lisa, ein Kind, das in einem sibirischen Dorf aufwächst und Bekanntschaft mit einem geheimnisvollen Fremden macht. Der Fremde will Lisas sehnlichsten Wunsch erfüllen und sie von ihrer Traurigkeit und den Albträumen befreien.
Das kleine Mädchen wuchs mir von Anfang an ans Herz und als ich die fünf Begriffe „Frühlingsbote, Berggipfel, rote Stiefel, Kieselstein, Suppe“ als Vorgabe für eine neue Kurzgeschichte vor Augen hatte, sprangen mich die ‚roten Stiefel‘ förmlich an.
Sie erinnerten mich daran, wie sehr ich mir als Kind neue schwarze, glänzende Gummistiefelchen wünschte (ob es damals überhaupt rote gab?), weil meine alten schon so hässlich aussahen. Dann dachte ich an Lisa – auch sie würde bestimmt gern neue Stiefelchen bekommen, da war ich mir sicher.
Alles andere war nicht mehr schwer und fügte sich wie von selbst in eine ‚Andersrum‘-Fortsetzung ein. Diesen Teil schrieb ich mit einem inneren Lächeln. Ich wollte das Mädchen einmal so fröhlich und unbeschwert sehen, wie es ihrer Natur auch entsprach. Lisa sollte einfach nur Freude erfahren, das schöne Gefühl erleben, beachtet und geliebt zu sein … Und wieder wurde es eine in sich abgeschlossene Geschichte.
Dennoch ließ mich die Kleine noch nicht los. Obwohl der Grund von Lisas Bedrücktheit im ersten Teil für den Leser im Unklaren bleibt, wusste ich insgeheim, worin der Auslöser für ihre schlimmen Träume bestand. Und ich wusste, dass ihre Fröhlichkeit und Unbeschwertheit nicht lange währen konnten. Der Stein in ihrem Herzen, mehr schon ein Felsbrocken, war zu schwer, jeden Moment konnte er sich in Bewegung setzen und Lisas Welt aus dem Gleichgewicht bringen.
Nein, die Episode ‚Die lachenden Gesichter‘ war nicht abgeschlossen, ganz und gar nicht! Es war nur die Ruhe vor dem Sturm. Lisa hatte noch einiges zu bewältigen, und ich konnte und wollte das kleine Mädchen keinesfalls im Stich lassen.
Lisas Geschichte weiterzuschreiben war für mich eine Herausforderung. Ich musste mit dem Kind sehr behutsam umgehen, ihm genau zuhören, mich in seine Gefühle versetzen, es verstehen wie Duh es tat.
Duh ist eine besondere Figur. Sie entstand intuitiv und erst als ich mit dem Text fertig war und über Änderungen und Verbesserungen nachdachte, stellte ich fest, dass ich an Duh absolut nichts verändern wollte.
Warum gerade er? Warum jemand aus einer fremden Welt?
Nein, er ist kein Mensch! Aber welcher Mensch hätte Lisa und den vielen, vielen anderen Kindern in dem ‚weiten Land‘ bei einem besonderen Problem helfen können?
Keiner in Lisas Umfeld war dazu imstande. Auch wenn sie versucht hätte, um Hilfe zu rufen, nach Hilfe zu schreien: Sie wäre auf Unverständnis gestoßen. Das ahnte selbst das kleine Mädchen. Es hatte nur zu einem Wesen tiefstes Vertrauen aufbauen können – zu Duh; und das schon nach der ersten Begegnung mit ihm.
Warum ohne Gesicht, warum die schwarze Kleidung? So einer macht Kindern doch Angst, wenn er plötzlich nachts im Zimmer erscheint? Müsste er nicht freundliche Gesichtszüge haben und weiß gekleidet sein?
Diese Fragen hat man mir schon gestellt und ich gebe zu – ich habe darüber nachgedacht, Duhs Erscheinungsbild zu korrigieren. Sehr kurz nachgedacht! Schon im nächsten Moment wusste ich, das würde ihn zerstören, es würde ihn unglaubwürdig und fast lächerlich machen.
Nein, Duh muss so bleiben, wie er ist. Er ist kein Engel und kein Gott. Er ist nicht mal ein Zauberer. Er kann Lisas Kummer nicht einfach wegzaubern, er konnte das, was ihr angetan wurde, auch nicht verhindern oder ungeschehen machen.
Duh jagt Lisa keine Angst ein, obgleich dunkel und fremdartig an ihrem Bett sitzend. Das andere, das sich in ihrem Inneren festgekrallt hat, ist viel beängstigender, viel dunkler, viel entsetzlicher.
Ich gestehe – auch ich vertraue dem ‚dunklen Mann‘, auch ich finde ihn großartig und halte seinen Einsatz für die bedeutsamste Heldentat auf Erden.
Ich habe ‚meine‘ Lisa – ein deutsches/russisches Mädchen – nicht zufällig in einem kleinen Dorf aufwachsen lassen, das zwischen den Birken-Wäldern liegt, sondern ganz bewusst. Es gab dort Missbrauch – nur wurde dem keine Beachtung geschenkt: Ihren Peinigern ohne Schutz ausgeliefert, versuchten die Opfer zu überleben, indem sie das Unbegreifliche und den Schmerz tief ins Unterbewusste verdrängten, es für Jahrzehnte begruben. Wann jedoch alles wieder an die Oberfläche drängt und ihr Leben noch einmal zunichte macht – das ist nur eine Frage der Zeit.
Lisa ist ein Beispiel dafür, dass es so war und dass es vielleicht immer noch so ist.
Ich habe sie mir nur ausgedacht? Hm, vielleicht … Vielleicht aber auch nicht …
Ja, Lisa ist ein tapferes Mädchen. Mit Duhs Hilfe wird sie es schaffen; sie wird ihren Weg gehen.
Und wenn es ihr zusammen mit mir gelingt, auch nur einen Erwachsenen wachzurütteln, einen zweiten und einen dritten zum Nachdenken zu bringen und uns alle achtsamer zu machen, dann ist Duhs Mission auf dieser Erde erfüllt.

Die Neuausgabe von „Andersrum“ gibt es in vielen Buchshops und natürlich bei Amazon – auch als eBook

Cover: Detlef Klewer
Lisa hat Geburtstag. Illustration: Jutta E. Schröder (zur ersten Buchausgabe von 2014)
Autor:

Rosa Ananitschev aus Hemer

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