Familie Nagel und 30 Jahre Deutsche Einheit
Ausreise kurz vor der Wende

Stolz auf das Erreichte: Martina und Jörg Nagel mit Mischling Rasmus vor ihrem Häuschen in Uedem
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Dem Unrechtstaat den Rücken kehren,

das war eine Wunschvorstellung von Martina Nagel, die mit ihrem zweiten Mann Jörg in Pöszneck/ Thüringen lebte, dem selben Ort, in dem 1979 auch die Familien Strelzyk und Wetzel an ihrem Ballon bastelten, der sie am 16. September bei einer abenteuerlichen und lebensgefährlichen Flucht in den Westen trug.
„Aber mein Vater war Polizist“, erinnert sich die heute 68jährige, „das konnte ich ihm nicht antun. Er hätte kein Bein mehr auf den Boden bekommen“.
Martinas Ex Mann und Vater ihres ersten Sohnes, mit dem sie nach der Scheidung noch in einer Wohnung lebte, wagte einen Fluchtversuch mit seinem Kumpel. Martina und ihre Freundin fuhren die beiden noch bis zu einem Wäldchen. Von dort aus sollte es losgehen. Leider vergeblich, denn die beiden wurden gefasst und ins Gefängnis gebracht. Auch die beiden Frauen wurden kurze Zeit später verhaftet und im Stasi Gefängnis Gera verhört.
Stundenlange Verhöre alle paar Stunden, auch mitten in der Nacht zermürbten sie.
Den Männern sei es noch schlimmer ergangen. „Die Stasi hatte so ihre Methoden im Umgang mit Republikflüchtlingen“, weiß Nagel zu berichten. Acht lange Wochen dauerte ihr Martyrium und das ihrer Freundin, bevor sie endlich entlassen wurden. „Die Repressalien hörten aber auch dann nicht auf, denn Beihilfe zur Republikflucht war nicht minder schlimm, als die Flucht an sich“.

Nicht ohne meinen Sohn

Als die beiden Männer nach einem Jahr durch den Westen freigekauft wurden, bot man ihr an, ebenfalls auszureisen, allerdings ohne ihren Sohn. Deshalb verwarf sie den Gedanken schnell wieder. Ihre Freundin hingegen nahm das Angebot an und ging mit in den Westen, wo sie im niederrheinischen Uedem landete.
Mit Jörg, ihrem zweiten Mann, den sie 1989 heiratete und mit dem sie einen zweijährigen Sohn hatte, stellte sie einen Ausreiseantrag, der positiv beschieden wurde. Dem Regime war sie aufgrund ihres politischen Engagements unbequem geworden. „Ich konnte meinen Mund nicht halten und die Repressalien waren bald nicht mehr auszuhalten“.
Ihre Kinder durfte sie diesmal mitnehmen. Ohne Ausweise, die man ihnen vorher weggenommen und gegen Provisorien getauscht hatte, begann Ende 1989 die Reise ins Ungewisse.
„Wir kamen mit gemischten Gefühlen“, erinnert sich die Endsechzigerin, der man ihr Alter und die Strapazen nicht im Geringsten ansieht, „einerseits waren wir von einer unheimlichen Euphorie erfüllt, die aus der gewonnenen Freiheit resultierte. Andererseits wussten wir aber nicht, wie es weitergeht“.
Nach Zwischenstationen in der damaligen Bundesaufnahmestelle Gießen und dann in Gummersbach landeten die vier schließlich im Dezember in Uedem, wo Martinas Freundin bereits eine Wohnung besorgt hatte, die allerdings noch nicht fertig war.
Bis dahin gewährte ihnen eine Familie im Ortsteil Uedemerbruch Unterkunft. Der gelernte „Dachdecker mit Leib und Seele“, so Martina über ihren Mann Jörg, fand nach Ende des Winters und einer kurzzeitigen vorübergehenden anderweitigen Beschäftigung eine Anstellung in seinem Traumberuf bei der Uedemer Firma Angenendt, den der 56jährige auch heute nach 30 Jahren noch ausübt.
Für Martina war der Neuanfang schon schwerer. Sie sei, wie 90 % der Frauen in der DDR, gewohnt gewesen, in Vollzeit zu arbeiten. Hier konnte sie aufgrund der fehlenden Betreuung für ihren Jüngsten, der zu dieser Zeit gerade mal zwei Jahre zählte, nur stundenweise eine Beschäftigung ausüben.
Ein Umstand, der sich später natürlich auch negativ auf ihre Rente auswirken sollte.
Trotzdem habe sie elf Arbeitsstellen innegehabt. Leider alles nur geringfügige Beschäftigungen.

Alles richtig gemacht

„Es herrschte auch eine gewisse Skepsis in der Bevölkerung uns Flüchtlingen gegenüber. Wir wurden nicht von allen sofort akzeptiert und viele belächelten unsere Mentalität“.
Mittlerweile ist diese Skepsis Geschichte. Die Nagels sind längst integriert, die Söhne überzeugte Niederrheiner und eine zweijährige Enkelin ist auch da.
Trotzdem fühle sie sich noch nicht hundertprozentig angekommen, gibt Martina zu bedenken. Sie habe das Gefühl, einigen sei selbst nach 30 Jahren die Einheit zwar im Kopf, aber noch nicht in den Herzen bewusst.
Trotz allem ist sie sich zurückblickend sicher, alles richtig gemacht zu haben. „Auf das Erreichte sind wir stolz, denn was wir haben, haben wir uns erarbeitet, ohne etwas geschenkt bekommen zu haben und den Glauben an uns haben wir nie verloren“, resümiert sie, als wir im Wohnzimmer ihres gemütlichen Häuschens sitzen.
Ihren Optimismus und die Zielstrebigkeit hätten sie ihren Kindern weitergegeben, so dass sie positiv in die Zukunft schauen.
Die ständig aufkeimende Sehnsucht nach der Heimat stillten sie durch regelmäßíge Besuche dort.
In nächster Zeit wird die ganze Familie mit Anhang nach Pöszneck fahren und dort ein paar schöne Tage verbringen.
„Darauf freue ich mich besonders“, sagt Martina mit einem strahlenden Gesichtsausdruck
und Jörg kann ihr da nur zustimmen.

Randolf Vastmans

Stolz auf das Erreichte: Martina und Jörg Nagel mit Mischling Rasmus vor ihrem Häuschen in Uedem
Eine Kopie ihrer Stasi Akte hat sich die heute 68jährige zusenden lassen
Autor:

Randolf Vastmans aus Xanten

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