Traumsequenzen (3)
Paul
Auf dem Weg zur Küche blickt er kurz in den Garderobenspiegel. Dabei zieht er den Bauch ein, streckt sein Kinn mit dem Dreitagebart vor und fährt mit der Hand durch das zerzauste, grau melierte Haar. Ein Goldkettchen spannt sich um seinen Hals … was daran baumelt, ist nicht zu erkennen, es wird von einem dunklen Haarbüschel verdeckt. Prustend stößt er die angehaltene Luft aus, sein Bäuchlein schwillt wieder in die gewohnte Form. Brötchenduft kommt ihm entgegen, als er die Tür zur Küche öffnet. Auf seiner Kaffeemaschine liegt ein Zettel: „Kümmere dich heute bitte mal um den Sicherungskasten * * * !“
Er zieht eine Grimasse, legt den Zettel zur Seite und bereitet seine Maschine vor. Das Prozedere, wie an jedem Morgen … Kaffeebohnen in die Mühle … frisches Wasser in den Tank … gemahlenen Kaffee in den Siebträger … glattpressen … festdrehen und einschalten. Den Tisch deckt er nicht extra, nimmt ein Brettchen aus einer Schublade, schneidet zwei Brötchen auf, deren Hälften er anschließend dick mit Butter bestreicht. Dann suchte er im Kühlschrank nach Käse. Als er nicht findet, was er sucht, öffnet er alle Döschen mit Leberwurst und verteilt sie auf die Hälften. Stehend kaut er die Brötchen und schlürft zwischendurch an seinem doppelten Espresso. Als er fertig ist, leckte er kurz Daumen und Zeigefinger seiner Hand ab und wischt die Krümel auf der Anrichte zusammen. Dann lockert er den Siebträger, entnimmt das Sieb mit dem Kaffeesatz und klopft es auf dem Brettchen aus, auf das er auch das Krümelhäufchen schiebt. Er lässt den Deckel des Pedal-Eimers hochschnellen und kippt die Reste hinein.
Noch immer im Bademantel schlurfe er ins Fernsehzimmer, drückt den Einschaltknopf, nimmt die Fernbedienung und zappt einen Sportsender ein. Bevor er sich setzen kann, muss er zwei Kartons vom Sessel nehmen … Teile seiner Modelleisenbahn. Während er dem langweiligen Fußballspiel folgt, nimmt er sich vor, heute Abend seine Bahn aufzubauen … im Wohnzimmer – da war sie wieder zum Dienst und konnte nicht maulen. Zumindest mal einen Schienenkranz auslegen und mit der E-Lok testen, ob alles noch reibungslos funktionierte.
Das Spiel verlief schleppend, ohne Angriffe, ohne Tore. Er schaltet den Fernseher ab, greift nach der Zeitung, die in einem Korb neben seinem Sessel liegt, und blätterte mit ausdruckslosem Gesicht die ersten Seiten um. Politik, Gezänk um Einsparungen ... Einigkeit bei Diäten-Erhöhung. Zugunglück … zig Verletzte … keine Toten.
Raschel. Lokales … Schlaglöcher … Hundekot … Bürgermeister bekommt neuen Dienstwagen. Raschel. Lokaler Sport … Heimspiel verloren, Trainer verließ vorzeitig den Platz … SV … Tabellenende. Raschel raschel. Geburten, Hochzeiten, Sterbefälle … unsere liebe Mutti, Frau und Oma … in tiefer Trauer … Nachruf … Oberverwaltungsrat in Ruhe … werden dich nicht vergessen …
Drei der Verstorbenen waren von seinem Jahrgang. Er schlägt die Zeitung zu, zieht die Augenbrauen hoch – noch lebte er.
Um jetzt noch einzukaufen, fehlt ihm die Lust. Auch war er noch nicht angezogen. Gleich würde sie aufstehen, und er hätte wieder mal nichts Anständiges gekocht. Er steigt die Treppe zum Keller runter, um zwei Pizzen aus der Truhe zu holen. Als er am Stromzähler vorbeikommt, fällt ihm der Zettel ein. Er kannte das Problem. Wurden mehrere Geräte mit großer Stromabnahme gleichzeitig eingeschaltet, kam es vor, dass ein Sicherungsschalter wegen Überlastung nach unten sprang – so wie üblicherweise bei einem Kurzschluss. Er öffnet die kleine Blechtüre. Alle Schalter stehen hoch, der Hauptschalter nach rechts. Er nimmt eines der Streichhölzer, die er schon beim letzten Mal in den Kasten gelegt hatte und klemmt es unter den dritten Schalter von rechts, der Beleuchtung und Steckdosen absichert. Vorläufig wieder Ruhe. Er verriegelt die kleine Türe, holt die Pizzen aus der Truhe und geht wieder hoch. Nachdem er beide Pizzen von Karton und Folie befreit hat, heizt er den Backofen vor.
Als das rote Lämpchen erlischt, schiebt er die erste Pizza in den Ofen. Rasch deckt er den Tisch mit Sets, großen Tellern, Besteck und Weingläsern. In zwei Schälchen füllt er kleine Tomaten, die er vorher halbiert hatte. Träufelt etwas Olivenöl und Balsamico darüber, würzt mit Salz und Pfeffer, zupfte einige Basilikumblätter klein und verteilt sie über die Tomaten. So wird aus den Pizzen doch noch eine kleine Mahlzeit …
Der Herd gab Piepgeräusche von sich – acht Minuten waren vergangen. Er holt die erste Pizza aus dem Backofen – und schiebt die zweite auf den Rost. Als er sich aufrichtet, steht sie plötzlich hinter ihm. Sie lief gerne barfuß – und er hatte sie nicht bemerkt.
„Noch immer im Bademantel – typisch Rentner, den ganzen Tag lesend auf der Couch.“
„Na und“, lachte er „kann ich mir doch leisten.“
Sie umarmt ihn lächelnd, stellt sich auf seine Füße und mit kleinen Tanzschritten wiegen sie sich hin und her. Dann presst sie sich an ihn und küsst seinen Hals. Als seine Hände unter ihr Shirt gleiten, piepte wieder der Herd …
„Was nun? Liebe oder Pizza in Flammen“, kichert sie.
Vergnügt plaudernd essen sie ihre Pizza, picken Tomaten aus den Schälchen und trinken ihren Wein … Nach dem Espresso steht sie auf.
„Ich fahr' heute mal früher los, muss noch den Kreditantrag bei der Sparkasse besprechen. Dann noch bei Ulla vorbei, sie fliegt morgen in Urlaub.“
„Ja okay“, brummt er, „mach das – und bestell' schöne Grüße von mir.“
Sie verschwindet nach oben, um sich anzukleiden. Er räumt das Geschirr in den Geschirrspüler, in dem sich schon einiges angesammelt hat. Als sie wieder unten ist, zieht sie die Schuhe an, nimmt ihre Schlüssel, küsst ihn kurz und verlässt das Haus.
Er hört noch, wie sie ihr Auto anlässt – dann wird es ruhig. Er startet den Geschirrspüler und geht in den Keller, um auch die Waschmaschine laufen zu lassen. Wieder oben öffnet er hastig den ersten Karton: Weichen, nur Weichen. Im nächsten Karton dann die ersten Schienen. Er trägt die Kartons ins Wohnzimmer und steckt die ersten Schienen zusammen. Nach einer Stunde liegt ein großes Schienen-Oval mit Abstellgleis am Boden. Jetzt holt er aus einem der Kartons die Lok mit einigen Waggons und stellt sie auf das Abstellgleis. Bei dem letzten Karton wundert er sich über das doppelt gewickelte Klebeband. Eigenartig. Doch er öffnet ihn ungeduldig und hebt den schweren Transformator mit den vielen Lämpchen, glänzenden Hebeln und Schiebern aus dem Karton. Nachdem der Trafo mit den Anschlüssen der Schienen verbunden ist, entrollt er das Anschlusskabel und drückt den Stecker in die Steckdose neben dem Schrank. Vor dem Abstellgleis kniend, bringt er die Lok in Position und mit der freien Hand drückt er einen der glänzenden Trafohebel nach hinten …
Helle Funken sprühen mit zischendem Knistern auf ... sein Körper wird heftig geschüttelt … die zuckenden Hände wirbeln einige Gleisteile durcheinander … noch ein quäkender Laut aus seinem Mund – dann ist es still.
© Die Zeitungsfrau / Die Krankenschwester / Paul / Illustrationen:
Gottfried Lambert, 2012
Autor:Gottfried (Mac) Lambert aus Goch |
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