Die vergessene Strickleiter ...
Was war das denn? Hörte ich Stimmen? So weit war es also schon mit mir. Nein, ich träumte nicht. Aus dem Nebenzimmer hörte ich Stimmen – unterschiedliche Stimmen. Leise stieg ich aus dem Bett, und noch leiser tappte ich durch den dunklen Flur zum Nebenzimmer.
Hier stehen zwei Mal- und Basteltische für die Enkelkinder, darunter große Plastikboxen mit Lego, Playmobil und Teilen der alten Holzeisenbahn: Schienen, Weichen, Signalmasten, Brücken, Tunnel, Lokomotiven und ihre Batterien, Waggons und der Bahnhof. Ja, genau, der Bahnhof mit echter Tonaufzeichnung und -wiedergabe für die Bahnsteigansagen, der in einer meiner Geschichten schon eine Rolle spielte. Auf der gegenüberliegenden Seite das wandgroße Bücherregal, das wir schon seit Wochen unbedingt mal entstauben wollen. Aber alle diese Bücher, zum Teil in zwei Reihen hintereinander … so ist es vorläufig beim Wollen geblieben.
Eines der Regale wurde vom Mondlicht wie mit einem Bühnenscheinwerfer ausgeleuchtet. Und da standen sie, die kleinen Fimo-Figürchen. Liebevoll geknetete Geschenke meiner Enkelkinder. Mit so einem Draht im Rücken, an dem oben eine Klammer das Maul aufreißen kann, um mit den Zähnen ein Foto festzuhalten. Tagsüber stehen sie immer ganz brav und stumm vor den Büchern im Regal. Einfach fünf lustige Figuren, die auch irgendwann mal abgestaubt werden. Irgendwann …
„Ihr könnt euch alle etwas wünschen“, tönte der kleine, pummelige Ritter mit seiner Blechdosenstimme, „ich habe auf der Rückseite meines Schildes einen Zauberspruch in uralter Rittersprache entdeckt. Vielleicht funktioniert er ja noch.“
„Grrrr“, raunzte der gelbe Löwe und zeigte seine riesigen, ungeputzten Zähne. „Ich wünsche mir eine große Fliegenklatsche, mit der ich diese lästigen Quälgeister vertreiben kann. Meine Schwanzquaste hat die besten Zeiten hinter sich.“
„Und ich wünsche mir ein schwarzes Fell, damit ich nachts beim Mäusefangen nicht so schnell gesehen werde“, maunzte die kleine, rote Katze. Dabei machte sie einen eindrucksvollen Buckel.
„Wau, waff, waff“, bellte der kleine, dicke Hund, „ich wünsche mir ein blaugrün kariertes Hundemäntelchen, nach dem sich alle Hundemädels umdrehen. Mit meinen schwarzen Punkten sehe ich ja aus wie eine blöde Kuh.“
Eine winzige Wolke schob sich vor den Mond, und es wurde für einen Moment finster und still im Zimmer. Sollte ich einem inneren Drang folgen, und der Toilette einen Besuch abstatten? Daran war erst mal nicht zu denken. Die Wolke war weitergezogen, der Mond setzte die Szene wieder ins volle Rampenlicht.
Der kleine, pummelige Ritter reckte sich auf und ließ vor lauter Ergriffenheit einen lauten Pups. Er hob sein Schutzschild hoch, um den Zauberspruch vorzulesen, als ein jämmerliches Schluchzen und Schniefen zu vernehmen war. Die kleine Schnecke robbte sich mit dicken Kullertränchen in die Bühnenmitte.
„Ich kann nicht so schnell, ich bin nicht so fix. Immer und überall muss ich mein Eigenheim mit herumschleppen“, japste die kleine Schnecke mit tränenersticktem Stimmchen. „Ich wünsche mir eine kleine, schnuckelige Mietwohnung mit Heizung und einem Balkon, auf dem ich mich einfach als Nacktschnecke sonnen kann.“
Alle waren paff und reckten ihre Drähte mit den Klammern in die Höhe. Nur die Schnecke hatte weder einen Draht auf ihrem Haus, geschweige eine Klammer. Sie fing erneut an jämmerlich zu weinen.
Vor Schreck ließ der kleine, pummelige Ritter seinen Schild fallen. Und dieser fiel mit dem unausgesprochenen Zauberspruch vom Bücherregal auf den Zimmerboden. Unerreichbar für den verdutzten, kleinen Ritter – denn er hatte seine Strickleiter auf der Burg gelassen …
© Text und Fotos: G. Lambert / 2014
Autor:Gottfried (Mac) Lambert aus Goch |
19 Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.