Die stille Frau ...
... für meine Mutter (1913-1981)
Als zweites von sieben Kindern wurde meine Mutter in Goch geboren. Mit ihren drei Schwestern und zwei Brüdern, ein dritter Bruder wurde nur etwa ein Jahr alt, hatte sie eine schöne und unbeschwerte Kinder- und Jugendzeit. Im Jahr 1933 legte sie die Gesellenprüfung als Schneiderin ab. Meinen Vater heiratete sie im Jahr 1937.
Es folgt hier keine Schilderung ihres ereignisreichen Lebens. Hier geht es nur darum, ihre späte, aber umso intensivere, kunsthandwerkliche Arbeit zu würdigen – soweit das hier möglich ist.
Wie viele andere Hausfrauen und Mütter auch, arbeitete sie an der Nähmaschine oder bestickte Tischdecken und Kleidersäume, klöppelte und gestaltete Makramee-Objekte – Notwendigkeiten oder entspannendes Hobby. Nichts deutete darauf hin, dass unter ihren Händen noch einige Wandbehänge in hoher handwerklicher und künstlerischer Qualität entstehen würden.
Erst in den Jahren 1964/65 begann sie, der Anregung des Glasmalers Hans Mennekes folgend, großformatige Wandbehänge herzustellen. Nur speziell angefertigte, übergroße Spannrahmen ermöglichten die Arbeit auf dem oft über 2 Meter langen Trägermaterial. Alle von ihr ausgeführten Wandbehänge entwarf Mennekes in lockerer, aquarellartiger Technik direkt auf den Stoff. Das Ausarbeiten der Formen und Farben, die Richtung und Anordnung der Stiche, die Auswahl der Garne oder Stoffe und ihre Farben, das alles blieb der Stickerin überlassen. Es gehörte unglaubliche Geduld und großes Einfühlungsvermögen zu jeder neuen Arbeit, die sich oft über Jahre hinzog. An kritischen Stellen wurden Proben gestickt, gemeinsam begutachtet und, wenn verworfen, wieder entfernt. Nur eine sensibel angeordnete Richtung der Stiche gibt den entworfenen Formen – Körpern und Gesichtern – Struktur und Plastizität.
Der Behang „Adam und Eva” ist als Applikation gefertigt. Ausgesuchte Seidenstoffe, dem Entwurf farblich angepasst, sind formgeschnitten auf den Trägerstoff geheftet. Die Konturen der einzelnen Formen (Ränder) sind sauber umgesäumt und aufgenäht, um ein Ausfransen des Stoffs zu verhindern. Alle Konturen und die Innenzeichnungen der Formen sind mit handgeflochtener Kordel in angepasster Farbe und Stärke ausgearbeitet. Teilbereiche sind zusätzlich mit Stickerei belegt, um eine leichte Schattierung anzudeuten.
Oben, hinter einer dreieckigen Form, dem „Auge der Dreifaltigkeit”, sind Formen auszumachen, die wie gerolltes Pergament anmuten – vielleicht ein Hinweis auf die Schriftrollen, auf denen uns die Geschichten des Alten Testaments überliefert wurden. Adam schaut noch etwas unentschlossen auf Eva, die ihm den schicksalsbehafteten Apfel anbietet. Am Stamm des Apfelbaums zischelt die Schlange. Tiere, wie sie am Niederrhein beheimatet sein könnten, zieren den Hintergrund.
Einige andere Behänge, wie zum Beispiel „Kinder”, 247 x 57 cm; „Schöpfung”, 265 x 40 cm; „Familie”, 197 x 49 cm; „Herbst”, 300 x 50 cm und „Engel”, 180 x 52 cm, sind vollflächig in Plattstich ausgeführt. Wenn die Formen es erforderten, wurden die ausgesuchten Seidengarne sogar aufgesplisst (halbiert). Jeder Quadratzentimeter dieser großformatigen Stücke ist voll ausgestickt und bedeckt. Für unsere Wegwerfgesellschaft eine unvorstellbare Arbeit.
„Engel”; flächig, mosaikartig, nur durch einige Konturlinien gestrafft, sind die Formen angelegt. Allein die unterschiedliche Anordnung des Stickfadens ermöglicht ein lebhaftes Spiel von Licht und Schatten.
„Formen 1”, „Formen 2” und „Salome“ sind Behänge, bei denen der teilweise sichtbare Trägerstoff eine gestalterische Funktion erfüllt. Auch bringt hier, ebenfalls in Plattstich, ein etwas stärkeres Seidengarn eine andere, luftigere Struktur.
„Formen 1”; an Ur- oder Keimzellen lassen die Formen denken. Wie Organismen besetzen sie den, für sie ungewöhnlichen, rechteckigen Raum; durchdringen sich gegenseitig, teilen sich, saugen Zellen auf oder stoßen sie ab.
„Formen 2”; freie Formen, warme und kalte Farbtöne bestimmen das Format – unten massiv, nach oben hin leichter und schwebender. Gelbleuchtende Formen organisieren sich zu einer sonnenartigen Kreuzform, die alle anderen Formen lichtgebend durchdringt.
„Salome”; wer das unter den Füßen der Salome liegende, abgeschlagene Haupt des Johannes übersieht, wird zuerst an eine apfelpflückende Eva denken – so feinsinnig hat der Künstler die überlieferten Mythen der beiden
Urfrauen miteinander versponnen.
Hans Mennekes, ein in Weeze ansässiger Künstler, ließ sich zu diesen Themen aus der mit ihm befreundeten Familie, der Bibel, der Natur oder durch freie Formen inspirieren. Neben den Materialien Glas, Stein, Bronze, den Edelmetallen Gold und Silber faszinierten ihn auch Textilien. So entstanden, neben einigen anderen, auch die Entwürfe zu diesen großen Wandbehängen.
Meine Mutter setzte diese Vorlagen feinsinnig und in bemerkenswert hoher Qualität um – gab ihnen „stoffliches Leben”. Mennekes ließ neben seinem Signaturkürzel auch immer ihre Initialen auf diesen Arbeiten einsticken. So ist wohl auch ihr Beitrag zu diesen Wandbehängen nicht nur als ein handwerklicher, sondern auch als ein künstlerischer anzusehen.
Diese so erfreulich fruchtbare, gestalterische Symbiose endete nach etwa 10 Jahren. Hans Mennekes war verstorben – zu früh.
Neben ihrer Arbeit an den großen Behängen nähte und bestickte meine Mutter Paramente. Diese Arbeiten wurden verschenkt – und selten fotografiert. Gezeigt sind hier nur drei Beispiele, zu denen ich die Entwürfe stellen durfte. Diese nur handgroßen Skizzen setzte meine Mutter dann um in wunderbar applizierte und bestickte Stolen und Kaseln aus feinsten Seidenstoffen.
© Gottfried Lambert, August 2002
Autor:Gottfried (Mac) Lambert aus Goch |
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