Ein blinder Praktikant erwies sich als Glücksfall im Michelis-Haus
Gladbeck: Alte Augen für junge Hände
Ein Nusskuchen zum Abschied: Die halbe Nacht hat Samy in seiner eigenen Wohnung gebacken, um sich für ein Jahr im Eduard-Michelis-Haus zu bedanken. Das ist keine kleine Geste: Samy ist blind. Dennoch hat man ihm hier eine Chance gegeben.
von Oliver Borgwardt
Mit 15 Jahren begann für Samy El-Omari die Dunkelheit. Eine seltene genetische Krankheit raubt dem jungen Mann nach und nach das Augenlicht. Unheilbar. Unausweichlich. Trotz dieses monströsen Schicksalsschlages hat sich Samy entschlossen, sein Leben zu meistern. "Ich könnte mich auch zuhause hinsetzen und gar nichts tun", sagt er entschlossen, "aber das will ich nicht". Mit 21 Jahren steht er nun kurz vor dem Fachabitur und strebt sogar ein Studium an. Das geistige Rüstzeug bringt der intelligente Schüler der Gladbecker Kessels-Akademie dafür ohne Zweifel mit. Dafür hapert es an der Technik: Blindengerechte Hilfsmittel wie etwa ein Laptop mit Sprachsteuerung sind nicht gerade billig. Das weiß auch Vater Staat, der in solchen Fällen normalerweise unterstützend eingreift. Normalerweise - aber eben auch nicht immer.
"Gehen Sie doch Besen binden, wie andere Behinderte."
Auskunft beim Amt
Wie es nämlich auch zugehen kann, musste Samy auf denkbar unangenehme Weise erleben.
"In meinem Alter bin ich nicht mehr schulpflichtig. Daher wollte das Arbeitsamt mir keine Förderung für meine technischen Hilfsmittel bewilligen", erzählt der gebürtige Gelsenkirchener. Statt dessen wurde die Mitarbeiterin am Telefon noch ausfallend. Auf die berechtigte Frage, was er denn ohne Förderung machen sollte, hieß es, als Blinder brauche er doch gar keine Ausbildung. "Sie können doch Besen binden, machen andere Behinderte auch", lautete der "Rat" aus dem Hörer. Eine Entwürdigung, die tiefe Spuren hinterlassen hat. "Man beginnt, an sich selbst zu zweifeln", ist das bittere Fazit von Samy, "man fällt in ein richtiges Loch."
Zweifel
Lange Zeit blieb der Weg aus diesem Loch steinig. Mit 17 Jahren macht er ein freiwilliges soziales Jahr in einem Altenheim, was auch gut läuft. Dass Samy ein einziges Mal durch den Ausfall öffentlicher Verkehrsmittel nicht zum Dienst kommen konnte und Hilfe beim Eintragen von Listen braucht, nehmen ihm die Mitarbeiter dort übel. "Auf einmal hieß es, ich sei nicht schnell genug", erinnert er sich. "Irgendwann denkt man, kann ich das überhaupt? Bin ich gut genug?"
Doch er macht weiter, beißt sich durch. Er geht weiter zur Schule, will das Fachabi schaffen und danach studieren. Dafür braucht er ein Praktikum und wendet sich an eine Behindertenwerkstatt - die ihn aber wegen seiner Behinderung ablehnt. "Das war schon ironisch", meint er mit bitterer Stimme. Die Ablehnung macht ihm zu schaffen, schmerzt ihn. Hilfe erhält er in dieser schweren Zeit durch seine Familie, die fest zu ihm steht. "Ohne meine Familie hätte ich das nicht so gut geschafft", meint Samy.
Neubeginn
Dann kam der Tag, der Samys Leben verändern sollte. Eine Lehrerin an der Berufsschule empfiehlt ihn an das Eduard-Michelis-Haus. Hier erfährt man schnell, wie man ihn beim Arbeitsamt abgekanzelt hat. Die Leiterin Mechtild Eckholt ist empört und schockiert: "Da ist also jemand, der unbedingt arbeiten möchte, aber man wirft ihm Steine in den Weg!" Zusammen mit ihrem Mitarbeiter Bruder Jörg überlegt Eckholt, wie man Samy eine Chance geben kann.
Und schnell wird klar: Man braucht die Hilfe der Bewohner. "Ich habe also mit meiner Gruppe gesprochen", erzählt Bruder Jörg, "ihnen gesagt: Wir haben hier einen jungen Mann, der ist blind. Und er will bei uns arbeiten. Dafür brauchen wir Ihre Hilfe". Da sei ein nachdenkliches Murmeln durch die Gruppe der hochbetagten Damen und Herren gegangen. In ihrem Alter zwischen 90 und 105 Jahren haben sie selbst viele Einschränkungen. Würden sie das schaffen? "Und dann hieß es, ja, lass es uns versuchen", lächelt der Ordensmann. "Wir drehen den Spieß einfach um."
"Klick"
Dann auf einmal ist Samy da. Er ist zu allen freundlich und hilfsbereit, aber anfangs kleckert er beim Servieren manchmal, oder findet eine Tasse nicht so schnell, wie es die Senioren gewohnt sind. Kurz gesagt: Er braucht die Hilfe der alten Augen für seine jungen Hände - eine neue Situation für die Bewohner. "Und plötzlich, nach etwa sechs Wochen, hatte es auf einmal Klick gemacht", erinnert er sich. Man hatte sich aufeinander eingestellt. "Und dann haben wir etwas Wunderbares gemerkt", berichtet Mechtild Eckholt: Wie von Zauberhand blühten die alten Menschen auf. "Auf einmal hatten sie wieder eine Aufgabe, eine Sinnhaftigkeit in ihrem Alltag." Wo das Augenlicht fehlte, wurde mehr gesprochen - und nicht nur mit Samy, sondern auch untereinander. Nach wenigen Wochen klappte alles so gut, dass der junge Mann die Gruppe "alleine schmeißen konnte", wie die Einrichtungsleiterin stolz berichtet.
Die Bewohner freuen sich, wenn Samy nach den Tagen an der Berufsschule wieder im Michelis-Haus ist und erkundigen sich nach seinem Wochenende, nach der Schule oder den Arztbesuchen. Auch bei Schicksalsschlägen halten sie zu ihm, etwa nach einem Einbruch in Samys Wohnung. "Ich hatte danach Angst, wieder in die Wohnung zu gehen", gibt er zu. Besonders schlimm: Die Einbrecher hatten den wichtigen Laptop mit der blindengerechten Sprachsoftware mitgenommen. "Ich musste mich um alles mögliche kümmern, auch um einen neuen Laptop. So verständnisvoll wie hier hat man mich noch auf keiner anderen Arbeitsstelle behandelt", erinnert sich der junge Praktikant. "Ich bin so dankbar, dass ich hier die Chance bekommen habe, mich zu beweisen."
"Wir alle haben in diesem Jahr sehr viel gelernt", bestätigen auch Bruder Jörg und Mechtild Eckholt. Und natürlich sind alle traurig, dass Samy nun geht. "Aber ich mache mein Abi ja ganz in der Nähe", kann dieser beruhigen. "Die Bewohner haben so schnell keine Ruhe vor mir". Er lacht, und alle stimmen ein.
Autor:Oliver Borgwardt aus Dorsten |
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