Die Barrierefreiheit im Gladbecker Nahverkehr bleibt eine unvollendete Baustelle

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Das neue Personenbeförderungsgesetz aus dem Jahr 2013 verpflichtet Städte und Verkehrsverbände dazu, alle Bus- und Straßenbahnhaltestellen bis 2022 barrierefrei zugänglich zu machen – für das Schienennetz und die Bahnhöfe der Deutschen Bahn gilt dies bislang nicht. Das Reisen für Menschen mit Gehbehinderung ist und bleibt damit sowohl im Nah- als auch im Fernverkehr erschwert und teilweise unmöglich, zumindest ohne Begleitung. Probleme, mit denen Lisa Brähler aus Gladbeck, die selbst im Rollstuhl sitzt, häufig konfrontiert wird, sind neben nicht-barrierefreier Haltestellen unter anderem keine abgesenkten Bordsteine, keine Einstiegshilfen oder Busfahrer:innen, die gar nicht erst anhalten, um sie mitzunehmen, oder sich weigern, ihr beim Einstieg zu helfen.

Bus- und Bahnfahren ist für Menschen mit Behinderung oft mit Schwierigkeiten verbunden

Es ist Samstag Mittag, als Lisa Brähler und Elena Senkel mit dem Zug von Gladbeck Zweckel zum Essener Hauptbahnhof zum Einkaufen fahren wollen. Lisa ist 28 Jahre alt und leidet seit ihrer Geburt an Zerebralparese, seit Anfang des Jahres wohnt sie in einer barrierefreien Wohnung in Zweckel. Elena Senkel ist 24 Jahre alt, studiert Sonderpädagogik an der Universität zu Köln und begleitet Lisa seit einigen Jahren bei Alltags- und Freizeitbeschäftigungen wie spazieren gehen, im Restaurant essen oder in die nächstgrößere Stadt zum Shoppen fahren. Besonders beim Busfahren kommt es regelmäßig zu unangenehmen Situationen, weil die Busfahrer:innen einen unfreundlichen Umgangston pflegen oder genervt reagieren, wenn sie auf das Herausheben der Rampe angesprochen werden. „Es kam schon öfter vor, dass ich mit Busfahrer:innen diskutieren musste, damit sie uns die Rampe herausholen und beim Einstieg in den Bus unterstützen“, erzählt Elena. Lisa fährt ohne Begleitung gar nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln, zu oft hatte sie schon schlechte Erfahrungen gesammelt. „Das häufigste Problem sind wirklich die Busfahrer:innen, die entweder nicht anhalten oder sich irgendwelche Ausreden ausdenken, wieso sie beim Einstieg nicht helfen können“, stellt Lisa fest, „Ich kann gar nicht mehr mitzählen, wie oft das schon vorkam. Wenn ich nicht Elena oder sonst irgendwen immer dabei hätte, würde ich gar nicht mehr Bus fahren, weil nie klar ist, ob ich mitgenommen werde oder nicht. Wenn ich beispielsweise zur Arbeit fahren würde, käme ich vielleicht zu spät oder gar nicht an.“

„Ich finde es diskriminierend, dass Menschen mit Gehbehinderung einen solchen Mehraufwand betreiben müssen, um Zug fahren zu können.“
Bevor Elena und Lisa ihre erste gemeinsame Bahnfahrt an diesem Samstagvormittag nach Essen antraten, rief Elena beim Mobilitätsservice der Deutschen Bahn an, um deren Fahrt dort anzumelden – so wie es im Internet empfohlen wird. Als sie die gewünschte Verbindung nannte, teilte ihr die Mitarbeiterin des Mobilitätsservice freundlich mit, dass der Einstieg am Bahnhof Zweckel mit dem Rollstuhl leider nicht möglich sei, weil es dort weder eine Rampe noch einen Aufzug gebe. Deshalb mussten die beiden zunächst mit dem Bus zum Bahnhof Gladbeck West fahren, wo sie aber immerhin problemlos zu den Bahngleisen gelangen konnten. Am Gleis selbst erhielten sie wiederum keine Hilfe beim Einstieg in den Zug, obwohl die Fahrt vorher angemeldet worden war. Das Problem: Elena und Lisa sind mit der Nordwestbahn gefahren, welche nicht zur Deutschen Bahn gehört. Der Mobilitätsservice der DB kann nur bei eigenen Zügen dafür sorgen, dass Hilfe beim Einstieg gewährleistet wird. Abgesehen davon können die Mitarbeiter:innen darüber Auskunft geben, ob Bahnsteige barrierefrei zu erreichen sind, ob Aufzüge vorhanden sind und ob diese funktionieren. Diese Informationen erhält man beispielsweise auch über die Webseite bahnhof.de oder in der Bahnhof Live App, welche sowohl bei kurzen als auch bei langen Fahrten sehr nützlich für die Planung sein können. Wer aber Unterstützung beim Einstieg in den Zug benötigt, muss sich vor der Reise vergewissern, alle beteiligten Verkehrsunternehmen informiert zu haben.

Lisa selbst sagt, sie würde sich das selbst gar nicht zutrauen, beim Mobilitätsservice anzurufen, um ihre Fahrten selbst anzumelden, beispielsweise schon, weil ihr die Maße ihres Rollstuhls, welche abgefragt werden, nicht bekannt seien. „Ich finde es diskriminierend, dass Menschen mit Gehbehinderung überhaupt einen solchen Mehraufwand betreiben müssen, um Zug fahren zu können. Es sollte selbstverständlich und jederzeit gewährleistet sein, dass auch gehbehinderte Menschen ohne Begleitung und Voranmeldung mitfahren können, wann und von wo sie wollen“, kommentiert Elena das Vorgehen. Auch auf der Rückfahrt von Essen nach Gladbeck musste sie zunächst den Lokführer auf die beiden aufmerksam machen, damit ihnen rechtzeitig beim Einstieg geholfen wurde. „Wir wären eigentlich gerne noch in ein, zwei Geschäfte gegangen“, erzählt Lisa, „Das ging aber nicht, weil wir am Abend zuvor beim Mobilitätsservice eine bestimmte Uhrzeit angegeben hatten, zu der wir zurückfahren würden. Wir dachten natürlich, dass wir uns dann auch daran halten müssten und haben uns extra beeilt, um pünktlich zu sein – obwohl uns niemand erwartet hatte. Besonders im Rollstuhl kann es immer mal vorkommen, dass es irgendwo länger dauert.“

Trotz Bundesteilhabegesetz kann sich Lisa nicht ohne Begleitung flexibel bewegen
Das östliche Gleis des Bahnhofs Zweckel wurde erst vor wenigen Jahren mit einer Rampe ausgestattet. Obwohl die Stadt Gladbeck mit der Deutschen Bahn bereits im Jahr 2009 einen Bau- und Finanzierungsvertrag zum Neubau einer behindertengerechten Zuwegung von der Feldhauser Straße abgeschlossen hatte, kam es erst im Oktober 2015 zu der Umsetzung des Vorhabens. Das westliche Gleis ist jedoch immer noch nur über Treppen oder einen von Gräsern umrandeten Trampelpfad zu erreichen.

Lisa erklärt, dass sie schon zu Schulzeiten – also vor mehr als zehn Jahren, als sie noch zur Jordan-Mai-Schule ging – mit Lehrer:innen und Integrationshelfer:innen geübt hatte, diesen Trampelpfad zu nehmen. Dafür gibt es dort das sogenannte Mobilitätstraining mit dem Rollstuhl, sowohl theoretisch als auch praktisch, bei dem beispielsweise das Fahren mit dem Bus, das Verhalten im Straßenverkehr oder die Bewegung an einem Bahnhof geübt werden. Doch der Trampelpfad am Bahnhof Zweckel war trotz Training nicht zu überwinden: „Das ist überhaupt nicht umsetzbar. Allein der Bordstein dort ist zu hoch“, begründet Lisa. Die Schwierigkeit liegt aber nicht nur an der Beschaffenheit des Weges, sondern auch daran, dass sie sich nicht traut, die Steigung allein herunterzufahren. „Es ist eigentlich unmöglich, selbstständig im Straßenverkehr unterwegs zu sein, obwohl ich körperlich und geistig dazu in der Lage wäre. Aufgrund meiner Erfahrungen würde ich aber niemals allein Bus oder Zug fahren, vor allem wenn die Bahnhöfe nicht mal zu erreichen sind“, fasst Lisa zusammen, „Ich finde im Jahr 2021, mit dem Bundesteilhabegesetz, sollte man erwarten können, dass auch Menschen im Rollstuhl zu jeder Haltestelle und zu jedem Bahnhof gelangen können. Mich stört, dass ich ohne Begleitung nicht wirklich teilhaben kann.“ In Deutschland gibt es neben dem bereits erwähnten Personenbeförderungsgesetz, seit 2017 das Bundesteilhabegesetz, welches besagt, dass niemand wegen seiner Behinderung in der Gesellschaft benachteiligt werden darf.

Wann der Bahnhof Zweckel komplett barrierefrei sein wird, ist weiterhin unklar
Für den Umbau des westlichen Gleises ist die DB Station & Service GmbH zuständig, mit der die Stadt Gladbeck bereits in einem engen Austausch bezüglich zukünftiger, geplanter Umbaumaßnahmen steht. Auf Nachfrage, wann der Umbau und die Modernisierung des westlichen Gleises folgen solle, erklärte ein Sprecher der Deutschen Bahn: „Es ist in Planung, den Bahnhof barrierefrei auszubauen, allerdings befindet sich die Planung noch in einem ganz frühen Stadium und weder Baubeginn noch Bauende stehen fest. Beim Umbau sollen nicht nur die Zugänge zum Bahnsteig verbessert und angepasst, sondern auch die Bahnsteige modernisiert und verlängert werden, sodass auch längere Züge dort halten können. Zudem werden Blindenleitstreifen installiert, um sehbehinderten Menschen das Reisen zu erleichtern. Standardmäßig tauschen wir auch die Beleuchtung, Hinweisschilder, Sitzbänke und Vitrinen aus“

Auch der Behindertenbeirat der Stadt Gladbeck, der sich damals schon stark für den Umbau des östlichen Gleises einsetzte, wurde über die weiterhin bestehenden Probleme des westlichen Gleises informiert. Da das Gelände aber der Deutschen Bahn und nicht der Stadt Gladbeck gehört, sind dem Behindertenrat in diesem Fall die Hände gebunden. „Wir wollen trotzdem Menschen mit Behinderung dazu ermutigen, auf uns zuzukommen, wenn sie mit Problemen im Alltag in der Stadt Gladbeck konfrontiert werden. Unsere Aufgabe ist es, die Interessen dieser Menschen zu vertreten und Inklusion möglich zu machen. Von vielen Angelegenheiten bekommen wir leider nichts mit, weil Betroffene den Behindertenbeirat nicht kennen oder sich nicht trauen, uns zu kontaktieren“, erklärt Josi Marten, Vorsitzende des Behindertenbeirats.

Kontaktdaten Behindertenbeirat
Josi Marten
Telefon: 02043/5992623,
Mobil: 0176/72755887
Mail: behindertenbeirat-gla-vorsitzende@gmx.de

Autor:

Pia Senkel aus Gladbeck

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