Eine Zahl mit Migrationshintergrund
Warum zu Silvester noch kein neues Jahrzehnt beginnt
Die Werbefachleute lecken sich schon die Finger: Zum Jahreswechsel 2019 auf 2020 möchten sie am liebsten schon das neue Jahrzehnt ausrufen. Kein Wunder, schließlich hat der Mythos der "Goldenen Zwanziger" unbestreitbar einen ganz besonderen Klang. Aber sie sind damit ein Jahr zu früh dran - warum?
von Oliver Borgwardt
Wenn Ende des Jahres die Korken knallen und die Feuerwerksraketen zum Himmel steigen, wird man sie wieder sehen: Bunte Partybrillen, bei denen die Träger mit glänzenden Augen aus den Nullen des Jahres 2020 hervorschauen, Werbung mit dem "neuen Jahrzehnt" und allerlei Prophezeiungen, was uns in der "neuen Dekade" erwartet. Mit etwas geschichtlicher Bildung würden sich die übereifrigen Verkünder aber noch 366 Tage gedulden (schließlich ist Schaltjahr).
Denn erst am 1. Januar 2021 beginnt das dritte Jahrzehnt unseres Jahrhunderts. Aber warum ist das so?
Eine Zahl mit Migrationshintergrund
Die Lösung findet sich in einer "Zahl mit Migrationshindergrund", die Europa gleichzeitig nichts und doch jede Menge gebracht hat: Die Null. Ursprünglich wurde im Abendland mehr oder weniger danach gerechnet, was man zählen konnte - und das "Nichts" gehörte nicht dazu. So war es auch kein Wunder, dass die Zählung in Rom "ab urbe condita", also in Zahlen nach der mythischen Gründung Roms, mit 1 begann. Sprich, Romulus mochte am 21. April 753 noch keinen einzigen Stein aufgebaut haben, und doch befand er sich jetzt schon im ersten Jahr der römischen Geschichte.
Im Amtsdeutschen hat sich diese Idee mit dem "vollendeten Lebensjahr" erhalten: Im ersten Lebensjahr brabbelt der kleine Mensch also noch ganz ungezählt vor sich hin, und erst am 1. Geburtstag feiert man den ersten Meilenstein. Niemand würde aber sagen, sein Baby sei "Null Jahre alt" - sonst riskiert man irritierte Blicke in der Krabbelgruppe.
Die Krippe stand im Jahr Eins
Zurück aber zu Rom: Dass zwei mythische Brüder, die von einer Wölfin aufgezogen wurden und nachher im tödlichen Streit um eine Grenzfurche entflammt waren, in christlicher Zeit nicht mehr als Vorbilder taugten, beschäftigte auch den Mönch Dionysius um das Jahr 500. Er gilt als der erste, der die Geburt Christi als neuen Beginn einer Zeitrechnung vorschlug.
Später rechneten seine Glaubensbrüder aufwändig nach, dass Maria und Josef sich wohl 753 Jahre nach Roms Gründung über einen neuen Sohn freuen konnten. Mit Jesus erstem Atemzug befand er sich dann auch schon im Jahr 1 nach Christus - ganz egal, ob sie nun nach römischem Kalender am Jahresende waren oder nicht.
Das führte wieder zu neuen Problemen, denn wenn der 25. Dezember nun der neue Jahresanfang war, widersprach das dem bewährten Julianischen Kalender, der sich nach dem Lauf der Sonne um die Erde richtete und am 1. Januar begann. Tatsächlich begann dann im christlichen Mittelalter, als sich das Kreuz bereits in ganz Westeuropa verbreitet hatte, das Jahr am 25. Dezember, obwohl man als landwirtschaftlich geprägte Gesellschaft weiterhin am bewährten Sonnenkalender für Saat und Ernte festhielt - aber das nur am Rande.
Und die Null? Die kam schließlich aus Indien über die arabische Welt nach Westeuropa, und brachte die Grundlage für eine Weiterentwicklung der Mathematik mit sich. Wirklich gängig wurde sie im Abendland aber erst in der Frühen Neuzeit.
Erst 2021 wechselt das Jahrzehnt
Festzuhalten bleibt: Die in der ganzen westlichen Welt gängige christliche Jahreszählung beginnt mit dem Jahr 1, und Jesus erstes Jahrzehnt wurde von 1 bis 10 gezählt, dann ging es mit 11 bis 21 weiter, und so fort (im Jahr 33 kam dann bekanntlich ein berühmtes Ereignis dazwischen, das Jesus irdisches Leben beendete). Somit endet ein Jahrzehnt auch immer mit dem 31. Dezember des ersten Jahres mit neuer Dezimalzahl, also in unserem Fall am 31.12.2020.
Also entspannt Euch, liebe Werbetexter: Das neue Jahrzehnt ist noch nicht gekommen.
Oder doch?
Falls Sie jetzt verwirrt sind oder die Stimmung bei der Silvesterparty aufgrund Ihrer Besserwisserei zu kippen droht, verzweifeln Sie nicht: Wissenschaftler haben der Neigung vieler Menschen, ein Jahrzehnt umgangssprachlich immer im "Nullerjahr" zu beginnen und am Ende des "Neunerjahres" zu verlassen, eine zusätzliche Definition gegönnt. Somit spricht man neben der "eigentlichen Dekade", wie sie Historiker definieren, auch von der "Usuellen" oder "gebräuchlichen Dekade". Wer die "usuellen Dekaden" vorzieht, spricht also von den 20er Jahren und meint damit den Zeitraum von 1920 bis 1929 (und ja, 1930 fühlt sich jetzt sehr ausgeschlossen).
Historiker bekommen dabei zwar Schüttelfrost, aber sehen Sie es entspannt: Hauptsache, Sie bleiben auch im nächsten Jahrzehnt fit und gesund - wann auch immer es für Sie beginnt.
Autor:Oliver Borgwardt aus Dorsten |
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