Missbrauchsstudie
Im Herbst will das Münchener Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) die vom Bistum
Essen beauftragte Studie über sexuellen Missbrauch vorstellen. Diese Studie möchte grundlegende Erkenntnisse liefern, warum so lange der Schutz der Institution und der Täter im Vordergrund standen, sagt IPP-Geschäftsführerin Helga Dill. Diese Ergebnisse sollen dann Basis für zielgerichtete Prävention und Intervention werden.
Wie konnte sexueller Missbrauch im Bistum Essen passieren? Und warum haben viele die Täter gedeckt? Im Auftrag des Bistums Essen untersucht das Münchener Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) derzeit die Hintergründe von Missbrauchsfällen im Ruhrbistum. Im Herbst soll die Studie fertig sein. Die Ergebnisse, die insbesondere auf Interviews mit Betroffenen, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und Verantwortlichen des Bistums basieren sollen helfen, sexualisierte Gewalt künftig noch besser zu verhindern, sagt IPP-Geschäftsführerin Helga Dill im Interview. Auch in der aktuellen Ausgabe des BENE-Magazins des Bistums Essen spricht Dill über die Studie.
Nach den jüngsten Missbrauchsgutachten hieß es mehrfach, dass man nun genug wisse und keine weiteren Studien mehr brauche. Welche Aufklärung kann ihre Untersuchung noch bringen?
Helga Dill: Wir wissen mittlerweile viel über das Ausmaß der sexualisierten Gewalt in der katholischen Kirche Deutschlands, das ist wahr. Wir wissen mittlerweile auch einiges über die zentralen systemischen Ursachen, die dazu geführt haben, dass viele Jahre der Schutz der Institution und der Schutz der Täter im Vordergrund standen. Genau dazu kann unsere sozialwissenschaftliche Studie mehr grundlegende Erkenntnisse liefern, die auch Basis für zielgerichtete Prävention und Intervention sind. Es geht uns darum, Risikokonstellationen aufzudecken und so Einsichten in unterschiedliche Dynamiken zu ermöglichen, die sich um die Ausübung sexualisierter Gewalt innerhalb des Bistums Essen gruppiert haben – und noch gruppieren. Wir rekonstruieren und analysieren bestimmte Tatverläufe, fragen nach den individuellen Folgen und der Bewältigung der erlebten Gewalt sowie nach den dafür nötigen Ressourcen und Unterstützungsmöglichkeiten. Hier stehen die Betroffenen im Mittelpunkt. Auf einer organisationalen Ebene analysieren wir die Dynamiken in betroffenen Kirchengemeinden. Außerdem rekonstruieren wir die relevanten Diskurse zu Sexualität und Sexualmoral im Bistum Essen im Zeitverlauf. Dazu gehört beispielsweise, in welcher Weise sich angehende Priester in ihrer Ausbildung mit ihrer eigenen Sexualität und der offiziellen Sexualmoral auseinandergesetzt haben. Dazu gehört weiter die Frage nach der klerikalen Macht, der Deutungshoheit der Priester und welche Lehren im Sinne einer weitgefassten Prävention daraus für die Zukunft gezogen werden sollten.
Sie hatten von vornherein keine Erforschung aller Missbrauchstaten im Blick, sondern eine „Tiefenanalyse“ sechs ausgewählter Fälle im Bistum Essen. Warum haben Sie diesen Ansatz gewählt?
Dill: Die gerade angesprochenen Themen können sehr gut exemplarisch anhand von ausgewählten Fällen beschrieben werden. Sozialwissenschaftlich gesprochen: Wir betrachten ausgewählte Fälle, von denen wir uns einen besonderen Erkenntnisgewinn versprechen. Wir können so anhand der Fälle die zugrundeliegenden sozialen Beziehungen, Strukturen und Prozesse beleuchten. So erwarten wir uns ein tieferes Verständnis der systemischen Dynamiken, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung sexualisierter Gewalt innerhalb des Bistums Essen beigetragen haben. Die Fälle haben wir auf der Grundlage von Aktenstudien ausgewählt.
Eine Besonderheit Ihrer Studie ist der Blick auf die Pfarrgemeinden, in denen ein Missbrauchsverdacht oft zu einer Spaltung in Befürworter und Gegner des Verdächtigen führt.
Welche Erfahrungen machen Sie bei Ihren Gesprächen mit Zeitzeugen?
Dill: Die Auswirkungen von Fällen sexualisierter Gewalt auf ganze Kirchengemeinden ist bisher wenig untersucht worden. So kann aber gezeigt werden, welche Wirkungen sexualisierte Gewalt auf ganze Systeme hat. Unsere bisherigen Interviews in Pfarrgemeinden zeigen, dass die Dynamik viele Jahre anhalten kann. Auch wenn die Fälle sexualisierter Gewalt lange zurückliegen, zeigen sich noch heute Verstrickungen der Gemeindemitglieder – sei es, weil sie damals nicht gesagt haben, sei es, weil sie den Täter geschätzt und damit wissentlich oder unwissentlich auch geschützt haben. Diese individuellen und kollektiven Folgen von sexualisierter Gewalt können eine Pfarrgemeinde über Jahre beeinträchtigen. In diesem Sinne sind auch die Pfarrgemeinden betroffen von der sexualisierten Gewalt.
Verantwortung haben in erster Linie die Täter: Hilft es Opfern, Gemeinden oder anderen Betroffenen, deren Namen zu veröffentlichen – auch wenn das Persönlichkeitsrecht, dem oft entgegensteht?
Dill: Verantwortung in rechtlicher und moralischer Hinsicht haben auch diejenigen Verantwortungsträger im Bistum, die die Täter geschützt oder geschont haben. Für Betroffene ist es wichtig, dass Täter zur Verantwortung gezogen werden. Und dass sie als Betroffene anerkannt und entschädigt werden. Die Veröffentlichung von Namen sehen wir zwiespältig. Zum einen haben auch die Täter ein Recht auf Resozialisierung und damit eine gewisse Anonymität. Zum anderen kann das jahrelange Schweigegebot, das sich die Menschen selbst auferlegt haben oder das ihnen von Seiten der Verantwortungsträger im Bistum auferlegt wurde, endlich aufgehoben werden. Ich plädiere für eine sorgfältige Abwägung in jedem Einzelfall.
Wie gehen Sie bei Ihrer Studie insgesamt vor?
Dill: Wir haben die Personal- und Geheimakten aller beschuldigten Priester und anderer Kirchen-Beschäftigten analysiert und daraus die sechs exemplarischen Fälle identifiziert. Diese Fälle analysieren wir vor allem durch Interviews mit Betroffenen, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und Verantwortlichen des Bistums. So können wir die systemischen Bedingungen und Folgen von sexualisierter Gewalt im Bistum zeigen.
Eigentlich sollte Ihre Studie bereits in diesen Tagen erscheinen. Warum haben Sie die Veröffentlichung verschoben – und wann werden Sie Ihre Ergebnisse nun präsentieren?
Dill: Wir haben genau genommen nicht die Veröffentlichung verschoben, sondern wir benötigen mehr Zeit für unsere empirische Phase. Das hat auch mit der Pandemie zu tun. Viele Interviews in diesem sensiblen Feld können wir nur in Präsenz führen. Und etliche Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind auch schon älter und gehören zur Risikogruppe. Pandemiebedingt konnten wir unseren ursprünglichen Zeitplan nicht einhalten. Ich bin zuversichtlich, dass wir in diesem Frühjahr alle Interviews führen können. Dann werden die Ergebnisse im Herbst vorliegen.
Autor:Heinz Kolb (SPD aus Gelsenkirchen |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.