Stawroula Exouzidou war ein Gastarbeiterkind
Allein in der Heimat

 Stawroula und Wassili in den 60ern.  | Foto: Exouzidou
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Zunächst hieß es, es sei ein Abschied auf Zeit: Für ein Jahr wollten Eleni Exouzidou und Stylianos Exouzidis nach Deutschland gehen, um als Gastarbeiter zu arbeiten. Ihre Kinder, Stawroula und Wassili, sollten so lange bei Opa Michael in Griechenland bleiben. Erst 25 Jahre später kehrten die Eltern in die Heimat zurück.

Die Geschichte ihrer Kindheit erzählt Stawroula Exouzidou in dem jüngst erschienenen Buch "Gastarbeiterkind". Die Familie stammt aus dem kleinen Dorf Kastanoussa am Fuß des Berges Beles in Griechenland, nicht weit von der bulgarischen Grenze. Die Bewohner lebten in den 50er und 60er Jahren von der Landwirtschaft, unter harten Lebensbedingungen und mit wenig Komfort. Da kam das Angebot aus Deutschland gerade recht: Wie Millionen anderer Gastarbeiter wollte das junge Ehepaar Teil des deutschen Wirtschaftswunders werden und die eigene finanzielle Situation durch Arbeit in Deutschland verbessern.

Plötzlich waren die Kinder ohne ihre Eltern in der griechischen Heimat. | Foto: Exouzidou
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Eltern gingen ohne Kinder nach Deutschland

Die Kinder, Stawroula, damals sechs Jahre alt, und Wassili, sieben, blieben beim Opa und der Stiefoma in Griechenland. "Plötzlich und hart konfrontierte man uns Kinder mit der neuen Situation", schreibt Stawroula in dem Buch. "Wir klagten und weinten, bis wir keine Tränen mehr hatten." Schon als kleines Mädchen wusste sie, dass der Abschied nicht nur den Kindern weh tat - auch ihre Eltern und der Opa waren traurig über die Trennung. Aber es half nichts, alle Seiten arrangierten sich mit der neuen Situation.

Von Tarzan und der Tabakernte

In vielen Kapiteln beschreibt die Autorin das einfache Leben, erzählt von kreativen Spielen wie "Tarzan", das ihr bis heute in Erinnerung geblieben ist, weil ein Spielkamerad dabei fast in einem Bach ertrunken wäre. Sie berichtet von der Landwirtschaft, in der es normal war, dass auch sie und ihr Bruder schon im jungen Alter bei der Tabakernte mithelfen mussten. Von den Dorfbewohnern, die allesamt "Onkel" und "Tante" genannt wurden und spezifische Spitznamen erhielten, zum Beispiel Tassos, der Lemonas, der früh neue Früchte anbaute. Von Menschen, die ihnen wohlgesonnen waren, zum Beispiel der liebenswerte Opa Michael oder die junge Hebamme Fotoula, die der Autorin noch vor der Einschulung das Lesen beibrachte. Aber auch von Menschen, die boshaft waren: Eine Tante lockte die Kinder mit dem Versprechen, ein Eis zu bekommen, wenn sie ihr bei der Ernte helfen würden. Am Ende eines harten Arbeitstages gab es dann nur einen gefrorenen Eiswürfel.

Dorf ist bekannt für den Eierwettkampf

Die Autorin berichtet vom Eierwettkampf, der in Kastanoussa eine lange Tradition hat und jedes Jahr zu Ostern groß gefeiert wird. Es gibt sogar Experten, die vor dem Wettkampf die Schalen der Eier begutachten, um so die Chancen auf den Sieg zu erhöhen.

Stawroula Exouzidou mit ihrem vor kurzem erschienenen Buch "Gastarbeiterkind". | Foto: Dabitsch
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Autorin beschönigt nichts

Dabei beschönigt die Autorin nichts. Sie kritisiert den Aberglauben der zum damaligen Zeitpunkt überwiegend ungebildeten Landbevölkerung, die vorbestimmte Rolle der Frau, die keine Selbstverwirklichung vorsieht ebenso wie den Umgang mit Kindern, die damals "mitliefen", ohne dass ihre Wünsche und Bedürfnisse berücksichtigt wurden. Kaum vorstellbar, wenn vom Plumpsklo im Garten die Rede ist, und dass Toilettenpapier damals in Kastanoussa gänzlich unbekannt war. Entsprechend erkannten Stawroula und Wassili auch schon früh die Chancen, die ein Leben in Deutschland bot. Die Autorin erinnert sich an den Besuch der Eltern in "einer schmutzigen Gegend, circa eine halbe Stunde zu Fuß vom Kölner Hauptbahnhof entfernt", wo die Gastarbeiter in einem alten Zechen-Reihenhaus lebten.

"Wir wollten gar nicht mehr zurück"

Dort verbrachten die Kinder die Sommerferien, besuchten zum ersten Mal ein Freibad, saßen Stunden staunend vor dem Fernseher und spielten mit den deutschen Nachbarskindern. Sie brachten sich Fahrradfahren bei und benutzten zum ersten Mal eine herkömmliche Dusche (im Dorf wurde in einer Zinkwanne gebadet). "Wir wollten gar nicht mehr zurück, wollten bei unseren Eltern bleiben. Alles um uns herum war neu, spannend und aufregend", schreibt Exouzidou.

Nach dem Abi zog sie nach Deutschland

Diese Möglichkeiten, die das Leben in Deutschland bot, waren ein Grund für Stawroula, nach dem Abitur ihre Heimat zu verlassen und ebenfalls ihr Glück in Deutschland zu suchen. "Hier fühlte ich mich so frei", sagt die heute 66-Jährige. Dass sie überhaupt ihr Abitur machen durfte, musste sie in ihrer Familie erst einmal durchsetzen, selbstverständlich war das nicht. Sie studierte zunächst Medizin, musste das Fach aber wechseln, als sie das erste Mal einen Autopsiesaal betrat. "Als Kind habe ich eine Tante tot in ihrem Vorgarten aufgefunden", berichtet Stawroula, seitdem konnte sie ihre Angst vor Leichen nicht mehr ablegen. Sie erzählt von weiteren Schicksalsschlägen im Dorf, von Selbstmord, einem, der vom Blitz getroffen wurde, einem anderen, der mit einem geliehenen Traktor seinen Sohn überfahren hat.

35 Jahre Lehrerin an Essener Gesamtschule

Und so ergab es sich, dass die Autorin Lehrerin wurde. 35 Jahre lang unterrichtete sie an der Frieda- Levy-Gesamtschule in Essen, dort, wo viele Schüler einen Mi-grationshintergrund haben. Sie fühlten sich verstanden von "Frau Exouzidou". Kein Wunder, wusste die Lehrerin doch selbst am besten, wie schwer ein Neuanfang in einem fremden Land ist. Das Wichtigste, sagt sie, ist das Erlernen der Sprache. Erst dies mache dich zu einem selbstbestimmten Menschen, dem sehr viele Möglichkeiten offen stehen. Heute ist sie überzeugt: "Ich wäre ohne Deutschland nicht das, was ich bin."

Eltern gingen nach Griechenland zurück

Während ihr Bruder Wassili und sie in Deutschland glücklich wurden, zog es die Eltern und den kleinen Bruder Michael Mitte der 80er Jahre zurück ins "Kastaniendorf". Inzwischen sind die Eltern und auch der große Bruder Wassili verstorben, nur Michael lebt in Griechenland und Stawroula in Gelsenkirchen. Zuletzt war sie 2017 in ihrem Heimatdorf. "Ich trage es in meinem Herzen, aber ich liebe meine Freiheit in Deutschland."

Das Buch "Gastarbeiterkind - Geschichten aus der Vergangenheit" ist im stationären und Online-Buchhandel erhältlich.

Eure Geschichten

Seid ihr auch als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen? Oder eure Eltern? Habt ihr Lust, uns eure Geschichte zu erzählen? Dann meldet euch per Mail an service-lokalkompass@funkemedien.de

Autor:

Miriam Dabitsch aus Velbert

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Miriam Dabitsch auf X (vormals Twitter)
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