Geboren im Revierderby
oder: Der Vater erfuhr es zuletzt
In 50 Jahren Bundesliga sammelt sich einiges an Erinnerungen und Material: Heimspielbesuche in 3 Stadien, gelegentliche Auswärtsfahrten, krumme Pokale und Fan-Souvenirs. Eins der schönsten Ereignisse kenne ich nur aus Erzählungen, aber vier Familienmitglieder machen mit und 50000 sind Zeugen.
Meine beiden Brüder und ich sind begeisterte Anhänger des FC Schalke 04 von klein auf, das wurde uns von unserem Vater in die Wiege gelegt. Mein jüngster Bruder Gisbert heiratete 1998 eine Bochumerin: Piroska, eingefleischter VfL-Fan; die beiden wohnen seitdem in Bochum.
Ende März 1999 wurde das erste Kind der beiden erwartet. Die Schwangerschaft verlief nicht ganz reibungslos: Piroska musste bereits am 12. März zur Beobachtung ins Krankenhaus. Am 13. März jenen Jahres - einem Samstag - spielte Schalke im Parkstadion - ausgerechnet gegen den VfL Bochum. Gisbert und mein zweiter Bruder Thomas wollten sich das Spiel ansehen.
Gisbert besucht mittags noch seine Frau im Krankenhaus - übrigens einen Steinwurf vom Ruhrstadion entfernt. Dort verläuft alles scheinbar normal: Piroska wohlauf, keine Anzeichen für eine bevorstehende Geburt. Also Handy, Trikot und Schalkeschal eingepackt und ab ins Stadion.
Gegen 14:30 treffen die beiden Brüder dort ein und stürzen sich ins Getümmel: wie üblich vorher noch ein Bierchen hinter der Tribüne, dann die Plätze einnehmen. Wir saßen damals meist in Block F auf der Haupttribüne.
Zwischenzeitlich spitzt sich jedoch im Bochumer Elisabethkrankenhaus die Lage schlagartig dramatisch zu: bei einer Routinekontrolle stellen die Ärzte fest, daß die Herztöne des Kindes aussetzen - es muss umgehend per Kaiserschnitt geholt werden! Auf dem Weg in den Operationssaal versucht Piroska Gisbert über Handy zu erreichen. Dieser hat sein Handy zwar eingeschaltet in der Tasche, hört das Klingeln aber wegen des hohen Geräuschpegels auf der Tribüne nicht. Er ahnt also nichts von der Gefahr für Mutter und Kind.
Im Parkstadion entwickelt sich in der ersten Halbzeit vor seinen Augen nämlich ebenfalls ein kleines Drama: innerhalb von drei Minuten ein Elfmeter auf jeder Seite, dann geht Bochum durch Bastürk sogar mit 2:1 in Führung, dazu noch ein Platzverweis - selbst für ein Revierderby relativ starke Kost.
Szenenwechsel Bochum: Die Ärzte fragen Piroska, wo der Vater des Kindes zu erreichen sei. Sie erklärt ihnen die Situation. Schlagartig entspannt sich die Stimmung im OP. Ein Pfleger sagt: „Klasse, das hatten wir schon lange nicht mehr. Da können wir ja gleich im Stadion anrufen.“ Sein Kollege, der eigentlich die Narkosespritze setzen soll, versucht erst noch, die Telefonnummer des Parkstadions herauszufinden. Piroska sagt später, sie hätte ab diesem Zeitpunkt das Gefühl gehabt, daß die Geburt zur Nebensache geworden sei.
Zum Glück verläuft der für Mutter und Kind nicht ganz ungefährliche Eingriff dann aber ohne grössere Komplikationen. Um 16:06 Uhr erblickt Christian Wurtz das Licht der Welt und stösst gleich seinen ersten Torschrei aus, denn im Parkstadion fiel kurz zuvor der Ausgleich zum 2:2 - übrigens durch Mike Büskens.
Den bejubelt auch Gisbert noch. Dann wirft er einen Blick auf sein Handy und entdeckt „2 Anrufe in Abwesenheit“ von seiner Frau. Er versucht Piroska zu erreichen, was natürlich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gelingt, denn die ist längst im Operationssaal. Ein Anruf im Krankenhaus kann die Lage auch nicht klären. Was ist da los? Das Spiel wird für ihn zur Nebensache, er macht sich besorgt auf den Weg nach Bochum. Ein Ordner will ihn am Verlassen des Tribünenbereichs hindern: „Sie kommen dann aber nicht wieder hinein.“ Gisbert: „Das ist mir egal!“ und hinterläßt einen verblüfften Ordner.
Wieder Ortswechsel: aus dem Bochumer Elisabethkrankenhaus wird während der Halbzeitpause im Parkstadion angerufen und die erfreuliche Nachricht durchgegeben. Der Stadionsprecher verkündet Christians Geburt kurz nach dem Wiederanpfiff. Mein Bruder Thomas, der ja noch im Stadion weilt, glaubt seinen Ohren nicht zu trauen: „Gisbert Wurtz ist soeben Vater geworden. Ein herzlicher Glückwunsch zur Geburt seines Sohnes Christian. Mutter und Kind sind wohlauf“ erfährt er und mit ihm die knapp 50000 im Stadion.
Gisbert weilt zu diesem Zeitpunkt irgendwo auf dem Ruhrschnellweg zwischen Gelsenkirchen und Bochum. Er erfährt von seinem Glück erst durch Thomas und damit auch nach den 50000 Zuschauern - mittels eines nun erfolgreichen Handyanrufs.
Gegen 17:15 hat der aufregende Nachmittag ein friedliches Ende: Gisbert lernt im Krankenhaus seinen Sohn kennen, im Parkstadion ist es beim 2:2 geblieben. Heute ist Christian 13 Jahre alt und Anhänger der blau-weißen ... Schalker!
Autor:Klaus Wurtz aus Kamp-Lintfort |
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