Zuerst essen, dann messen - Wenn Kinder zu Diabetikern werden
So manchem Erwachsenen graut es davor, sich beim Arzt Blut abnehmen zu lassen oder ein Impfung zu bekommen. Im Ferienschulungscamp für Kinder und Jugendliche mit Diabetes am Marienhospital Gelsenkirchen gehört für die teilnehmenden Kinder ab sechs Jahren der kleine Stich in die Fingerkuppe zum Messen des Blutzuckers und die Injektion mittels Insulin-Pen mehrmals am Tag zum Leben dazu.
Von Silke Sobotta
GE. Doch ganz so einfach ist das für die Kinder nicht und vor allem ist es wichtig, dass sie wissen, warum und wann sie zu ihren Utensilien greifen müssen, um ihr Lebensgefühl auf dem Standard zu halten, der für die meisten Kinder ganz normal ist. Darum besuchen sie, gern auch mehrmals, in den Sommerferien für eine Woche das „Camp“ in der Kinderklinik des Marienhospitals.
„Das ist ein Vollkornbrötchen mit Käse“, erklärt Assistenzärztin Nadine Grossmüller und lässt die Kinder mit Hilfe von blauen, grünen, gelben und roten Duplo-Steinen die in den Brötchen enthaltenen Bausteine der Nahrung ermitteln. Zur Sicherheit fragt die junge Ärztin jede einzelne Farbe noch einmal nach ihrer Funktion ab: „Was ist der gelbe Stein?“ „Das Fett“, kommt es aus den jungen Kehlen.
„Dieses Vollkornbrötchen mit Käse ist eine langsame Broteinheit. Weiß jemand, warum?“ Aber klar wissen die jungen Spezialisten Bescheid: „Weil der Magen lange braucht, um die Nährstoffe zu zerlegen.“
Und was ist dann Zucker? Natürlich eine schnelle Broteinheit und auch etwas, das den Kindern zu schaffen macht. „Denn,“ wie Dr. Matthias Papsch, der Oberarzt der Diabetologie in der Kinderklinik, erklärt, „der Zucker, wie man Diabetes umgangssprachlich nennt, ist bei den Kindern zwar nicht angeboren, aber er taucht bereits im ersten Lebensjahr oder gar im Säuglingsalter auf, was aber eher selten ist. Durch einen Autoimmunprozess werden die Zellen zerstört, die in der Bauchspeicheldrüse das Insulin produzieren und die Kinder werden zu Diabetikern.“
In den meisten Fällen bemerken die Eltern, dass mit ihren Kindern etwas nicht stimmt, weil diese extremen Durst entwickeln und einen entsprechend hohen Harndrang haben. Hinzu kommen Gewichtsabnahme und Trägheit, weil den Kindern die Energie und Kraft entzogen wird.
„Je jünger das Kind ist, umso schwieriger ist es festzustellen, was dem Kind fehlt“, erklärt der Arzt. „Wichtig ist, dass die Krankheit erkannt wird und der Diabetiker, egal welchen Alters, immer gut eingestellt ist, damit Folgeerkrankungen der Augen oder Nieren verhindert werden können. Wer vernünftig mit seiner Diabetes umgeht, kann damit eben so alt werden wie jeder andere. Für die Kinder ist es wichtig, dass sie selbst lernen, ihren Insulinbedarf zu ermitteln und diesen selbstständig zu spritzen. Immer unter Kontrolle der Eltern, aber eben von eigener Hand.“
Und genau das lernen die Kinder in dem Feriencamp. Denn ähnlich wie in der Schule arbeiten sie mit Arbeitsblättern, auf denen Fragen beantwortet, Zustände beschrieben und Zusammenhänge erstellt werden.
„Das Insulin ist der Schlüssel, der die Tür öffnet für den Zucker, damit dieser in die Zelle kommt und Energie entstehen kann“, beschreibt Nadine Grossmüller die Wirkung des Insulins.
„Und was passiert, wenn ihr die Abendspritze einmal vergessen habt?“ Wie aus dem Effeff kommt die Antwort: „Dann bleibt der Zucker im Blut, der Blutzucker steigt an und man fühlt sich schlapp. Manchmal wird einem richtig schlecht, der Kopf tut weh und man hat auch Angst.“
Und weil allen klar ist, dass „wild durch die Gegend Insulin spritzen nicht geht“, wird eben erst gemessen und dann gespritzt.
Die kleinen Camp-Besucher, drei Mädchen und fünf Jungen im Alter von neun bis elf Jahren, sind aber mit ihrer Krankheit bereits so vertraut, dass ihr Gespräch mit der Assistenzärztin einem Nicht-Diabetiker regelrecht „spanisch“ vorkommt. Da wird über Basal-Insulin, Korrektur-Insulin, Keton im Urin und Teststreifen gefachsimpelt, dass einem die Ohren rauschen. Die Kinder führen Listen, in denen sie ihre Blutzuckerwerte eintragen, damit die Ärzte überprüfen können, ob sie optimal eingestellt sind. Und die jungen Leute lernen auch Tricks kennen, wie und wo man sich das Insulin spritzen kann. Der eine hat die Technik raus, sich in den Oberarm zu spritzen, der andere sticht in den Bauch.
Nadine Grossmüller und Cordula Drießen, die stets anwesende Psychologin, sowie die beiden Kinderkrankenschwestern, die gemeinsam die Schulung durchführen, fühlen sich manchmal wirklich wie Lehrerinnen. Nur mit dem Unterschied, dass sie den Kindern wirklich lebenswichtige Dinge beibringen.
„Die Gruppe ist schon recht erfahren. Bei den meisten von ihnen wurde die Diabetes bereits im Alter von fünf oder sechs Jahren festgestellt. Wir bieten das Feriencamp für Kinder ab sechs und bis zu etwa 15 Jahren an. Wir können die Kinder zwar bis zum 18. Lebensjahr betreuen, aber meist haben sie später kein Interesse mehr daran“, schildert Nadine Grossmüller.
Dabei müssen sich die Damen jede Woche, denn so lange dauert der stationäre Camp-Aufenthalt der jungen Diabetiker jeweils, auf eine neue Gruppe einstellen. „In der nächsten Woche haben wir eine Gruppe von 14- bis 15-jährigen Mädchen hier, dann geht es um das Thema Sexualität und Schwangerschaft. In einer anderen Gruppe von Älteren haben wir über Alkohol und Drogen im Zusammenhang mit Diabetes gesprochen“, berichtet die angehende Ärztin.
Und weil nicht alles in der Woche nur Theorie ist und sich um Medizin dreht, sondern auch viele Freizeitaktivitäten wie Bogenschießen, der Besuch einer Kletterwand, ein Kino-Besuch und vor allem viel Sport auf dem Plan stehen, weil der wichtig ist für Diabetiker, ist Rico schon ein paar Mal in das Ferienschulungscamp für Kinder und Jugendliche mit Diabetes gekommen.
„Ich hoffe, dass er mit 16 alles weiß“, lacht eine zufriedene Nadine Grossmüller, der man anmerkt, dass ihr die Arbeit mit den Kindern bei allem Ernst, der zugrunde liegt, viel Spaß macht.
Autor:silke sobotta aus Gelsenkirchen |
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