Studie trifft voll daneben!
In der vergangenen Woche titelte der Stadtspiegel „Vorletzter im Lernen“ und im Innenteil weiter mit „In der Talsohle der deutschen Lernlandschaft“ und informierte über die Ergebnisse eines Rankings der Bertelsmannstiftung unter dem Titel „Deutscher Lernatlas 2011“. Dazu ergriff die Stadt Gelsenkirchen durch ihren Bildungsdezernten Dr. Manfred Beck das Wort, denn die Stadt ist über dieses Ranking, das sie auf dem vorletzten Platz rangieren lässt, alles andere als „amused“.
Von Silke Sobotta
GE. Stadtrat Dr. Manfred Beck findet dabei, wie auch viele mit der Materie befasste unabhängige Wissenschaftler, deutliche Worte zu der Studie der Bertelsmann-Stiftung. Gemäß dem Sprichwort „Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast“, werden von verschiedensten Seiten die erheblichen Schwachstellen des „Deutschen Lernatlas“ offen gelegt.
Beck sagt sogar: „Die Bertelsmannstiftung ist dabei, ihren Ruf zu schädigen“.
Stimmen zum
Deutschen Lernatlas 2011
„Nicht viel Sinn“ sagt der Deutsche Städtetag, in dem natürlich positiv wie negativ bewertete Kommunen geeint sind, in einer selten dagegewesenen Einigkeit. Gleich acht Kritikpunkte führt das Konsortium „Kommunales Bildungsmonitoring“ im Programm „Lernen vor Ort“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung an. Der Mülheimer Wirtschaftspädagoge Prof. Dr. Ulrich van Lith nennt die Bildungsstudie eine Geldverschwendung. Der deutsche PISA-Forscher Prof. Klaus Klemm nennt die vorliegende Datenlage zu nebulös, um daraus im schulischen Feld ein kommunales Ranking durchzuführen. Last not least spricht der Gründer des Instituts für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund, Prof. Hans-Günter Rolff gar von „groben methodischen Fehlern“ und rügt die Studie, weil sie eine Detailgenauigkeit vorspiegele, die sie in Wirklichkeit nicht bietet.
Fragwürdige
Indikatoren-Auswahl
Was hat die Bereitschaft zur Knochenmarkspende mit sozialem Lernen zu tun? Warum werden nur engagierte Bürger gezählt, die im Deutschen Roten Kreuz aktiv sind? Was ist mit anderen Einrichtungen gleicher Art? Muss man zwangsläufig Christ sein, um sich religiös anerkennenswert einzubringen?
Auf Gelsenkirchen bezogen stellt Dr. Manfred Beck nicht unberechtigt die Frage; „Wie sollen Museumsbesucher gezählt werden in einem Kunstmuseum, das keinen Eintritt erhebt, wie das Gelsenkirchener?“ Er bemängelt, dass mehr als 50 % der Indikatoren nur als Landesdurchschnitt zu berechnen waren, was eine objektive Erhebung nicht möglich macht.
Als Datengrundlage wurden die Jahre 2006 bis 2010 genutzt. So kann kein Schnittpunkt zwischen den Städten gefunden werden. Zum Vergleich: Der kommunale Bildungsbericht wird jährlich erstellt.
Fragen über Fragen, die die Studie offen lässt oder vielmehr sogar aufwirft.
Vom Ansatz her gut, aber...
Gelsenkirchens Bildungsdezernent sieht ein großes Problem der Studie in der Indikatoren-Auswahl. „Hier hätte ein Konsens geschaffen werden müssen, welche Kennzahlen wichtig sind“, erklärt der Sozialwissenschaftler. Denn nur über die Kennzahlen kann ermittelt werden, wo Stärken und Schwächen der einzelnen Städte liegen.
Die Indikatoren bezeichnet Beck als zirkulär, weil die sozialen Gegebenheiten auch abhängig sind vom jeweiligen Bundesland. So hat das Weiterbildungsgesetz in NRW natürlich Auswirkungen auf die VHS, die hier besser aufgestellt ist als in anderen Bundesländern.
„Die Stadt kann ja selbst keine Ausbildungsplätze generieren, sie kann nur über die Wirtschaftsförderung in der Wirtschaft dafür werben, die Zahl der Ausbildungsstellen zu erhöhen“, schildert Beck ein weiteres Kriterium.
„Der Grundsatz ist richtig, aber nicht zu Ende gedacht. Wissenschaftliche Lernerhebungen sind wichtig und gut, aber dabei sollten die Indikatoren dann auch mit der wissenschaftlichen Community abgestimmt werden. Damit der Fokus auf das gerichtet werden kann, was getan werden muss, um den Status quo zu verbessern“, meint Beck.
Rankings und ihre
Folgen
Gelsenkirchen nimmt gern und häufig an Rankings teil. „Es ist auch Bertelsmann, die regelmäßig ein Ranking zu Bibliotheken machen. Daran nimmt Gelsenkirchen teil und liegt im guten mittelprächtigen Bereich. Die Ergebnisse nutzen wir aber, um sie anschließend zu diskutieren und nach Möglichkeiten der Verbesserungen zu suchen“, erklärt der Dezernent das übliche Verfahrungen.
In diesem Zusammenhang werden sich viele Gelsenkirchener noch daran erinnern, dass im vergangenen Jahr Gelsenkirchen regelrecht „ausGEzeichnet“ dastand und für seine präventive Familien- und Bildungspolitik für Furore sorgte. So war Gelsenkirchen in den Jahren 2010 und 2011 „Stadt der UN-Dekade Bildung für nachhaltige Entwicklung“, es wurde „City for Children 2011“, erhielt den European Award of Excellence „City for Children 2010“, war für den Karl-Kübel-Preis 2010 nominiert, erhielt den Gesundheitspreis NRW „Gesunder Start ins Leben 2010“ und den Preis für kommunale Gesamtkonzepte 2010. Sollte das alles nichts zählen?
„ Ich bin ein Freund von Rankings, wenn sie gut gemacht sind und fair. Aber beim Lernatlas kann man nicht ableiten, was zu tun ist. Zumal an einer Änderung der Situation auch das Land und der Bund beteiligt sein müssten. Darum ist aus meiner Sicht das Thema verfehlt“, urteilt Dr. Manfred Beck.
Kleine Schritte in die richtige Richtung
Man könnte auch sagen: „Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen“, aber Gelsenkirchen als Kommune unter Haushaltssicherung bleiben nur kleine Schritte, um eine Situation zu ändern, die nicht von der Stadt verschuldet ist.
Alfons Wissmann, Leiter des Referat Erziehung und Bildung der Stadt Gelsenkirchen, gibt zu bedenken, dass viele hiesige Probleme weder den Bürgern noch der Stadt angelastet werden können.
„Wir sind uns unserer Probleme bewusst. Bei einer Arbeitslosenquote von 14% leben hier in der Stadt mehr als 14.000 schulpflichtige Kinder in Familien, die von Hartz IV leben. Hinzu kommt, dass jedes zweite hier geborene Kind eine Migrationsgeschichte in der Familie hat. Darum gibt es einen kommunalpolitischen Konsens zu ‚Bildung und Erziehung von Anfang an‘. Dabei sind wir aber noch im Aufbau begriffen, und die Ergebnisse sind noch nicht in Zahlen zu messen“, erläutert Wissmann.
Wenn er sagt „von Anfang an“, dann meint er das wörtlich, denn dank des Familienhebammen-Projektes beginnt in Gelsenkirchen die Bildung und Erziehung bereits vor der Geburt. Seit sechs Jahren werden Familien mit Neugeborenen zu Hause besucht, um ihnen Bildungsangebote nahe zu bringen. Denn inzwischen ist dank der Netzwerkarbeit zwischen der Stadt und freien Trägern in allen Stadtteilen eine Anlaufstelle für Familien vorhanden.
Griffbereit-Gruppen sind im Land einfach Spitze
„Es gibt derzeit 66 sogenannte Griffbereit-Gruppen in der Stadt. Darin werden Mütter und Väter mit Migrationshintergrund zu Sprachförderungsangeboten eingeladen, schon ehe die Kinder ins Kindergartenalter eintreten. Das sind mehr als es im ganzen Land NRW überhaupt gibt an solchen Gruppen“, verkündet der Referatsleiter nicht ohne Stolz.
Dieses Angebot endet nicht mit dem Kindergarten oder der Grundschule, sondern wird kontinuierlich fortgeführt sogar noch bis ins erste Jahr an der weiterführenden Schule. Die Betreuung der Kinder unter drei Jahren konnte innerhalb von sechs Jahren von drei auf 24% gesteigert werden.
Trotzdem ist man längst nicht zufrieden mit der schulischen Situation, die oft am Ende steht. Doch Wissmann sieht auch, dass alle Bemühungen umsonst sind, wenn am Ende keine Arbeitsplätze stehen, die ja auch einen Anreiz bieten würden.
Elternbeteiligung ist der Stadt wichtig
Weil der Stadt Gelsenkirchen wichtig ist, so früh wie möglich mit der Bildung und Erziehung zu beginnen, wurde ein Jugendamtselternbeirat für Kindertageseinrichtungen ins Leben gerufen.
„Das Land hatte die Befürchtung, dass sich nicht einmal 15% aller Eltern daran beteiligen wurden, eine solche Institution ins Leben zu rufen. In Gelsenkirchen hatten wir eine Beteiligung von 85%! Das bestätigt uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind, indem wir die Eltern von Geburt an und, wenn möglich, sogar bereits davor mit ins Boot holen“, freut sich Alfons Wissmann.
Hoffnung auf das Land: Zusatzmittel erwünscht
„Wir arbeiten im Kleinen daran, bei den Familien den Partizipationsansatz in die Köpfe zu bringen. Die Menschen sollen merken, dass ihre Beteiligung wichtig ist und ernst genommen wird. Darum ist es Zeit, dass das Land Ressourcen anders verteilt. Kommunen wie Gelsenkirchen benötigen Zusatzmittel, um mit anderen, besser gestellten Kommunen gleichziehen zu können. Was hier bislang umgesetzt wird, funktioniert nur so gut, weil es hier so viele engagierte Menschen gibt“, lobt Dr. Manfred Beck das Gelsenkirchener System. Dabei nimmt er gleichzeitig die rot-grüne Landesregierung in die Pflicht.
Autor:silke sobotta aus Gelsenkirchen |
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