Local statt Global Player
Unter dem Motto „Unternehmen aus aller Welt – gestern, heute und übermorgen“ baten das Büro für lokale Wirtschaftsentwicklung Gelsenkirchen-Südost und der Internationale Unternehmerverband RuhrStadt e.V. (intUW) in den Wissenschaftspark und mehr als 200 Gäste folgten der Einladung zu Grußworten, einen Kurzvortrag und einer Diskussionsrunde. Natürlich gab es im Anschluss noch Gelegenheit zum Austausch im Kleinen und guten Gesprächen.
Von Silke Sobotta
GE. Oberbürgermeister Frank Baranowski skizzierte in seiner Begrüßung ein Bild von einer Stadt Gelsenkirchen ohne Zuwanderer. Allein die Vorstellung fällt schwer, Baranowski sagt sogar unmöglich. Denn das Ruhrgebiet, und damit Gelsenkirchen mittendrin, ist ein wahrer Schmelztiegel der Nationen von Einwanderern, zu Neudeutsch: Migranten.
Dabei war gleich von Yunus Ulusoy, dem Leiter der Abteilung Modellprojekte der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforsdchung, zu erfahren, dass man mit dem Begriff des Einwanderers nicht mehr die Bürger der zweiten und dritten Generation erfassen würde, die bereits in Deutschland geboren wurden, also nur noch einen Migrationshintergrund in der Familie haben. Darum nutzte er bei seinen wissenschaftlichen Darstellungen lieber den Begriff der ethnischen Ökonomie.
Gelsenkirchen ohne
Zuwanderer?
Doch zurück zu OB Baranowski, der den Gästen vor Augen führte, dass Gelsenkirchen ohne Zuwanderer ein „Dorf an der Emscher geblieben“ wäre und niemals eine Großstadt. Dazu erinnerte er an den Mann, der die erste Zeche in der Stadt aufbaute: Der Ire William Thomas Mulvany. Mit ihm oder besser durch ihn und die Zeche folgten die Arbeiter aus Schlesien, Masuren und Ostpreußen, die der Stadt die heutigen Namen wie Baranowski, Laskowski (der Chefredakteur des Radio Emscher Lippe Ralf Laskowski fungierte als Moderator) oder auch Sobotta, was in seinem Ursprung von Sobota abgeleitet wurde und Samstag heißt, aber auch die Kuzorras oder Koslowskis, verdankt.
Für das Wirtschaftswunder der 50er und 60er Jahre brauchte man die Arbeiter aus Spanien, Italien oder eben auch der Türkei. Die Nachkommen dieser „Gastarbeiter“, die oftmals hier geblieben sind, sind nach Ansicht Baranowskis längst keine Ausländer mehr. „Viele verstehen sich auch nicht mehr als Menschen mit Migrationshintergrund. Sie sind angekommen und gehören selbstverständlich zur Stadt“, erklärte Baranowski.
Bezugnehmend auf das Motto des Abends schilderte das Stadtoberhaupt, dass „die Migranten schon immer ökonomisch wichtig waren für die Stadt; früher vor allem als Arbeitskräfte. Heute immer öfter auch selbst als Arbeitsgeber. Und übermorgen? Übermorgen – so stelle ich es mir vor -, übermorgen werden wir Mittel und Wege gefunden haben, das enorme Potenzial, das in unserer kulturellen Vielfalt liegt und zu einem guten Teil heute immer noch brach liegt, vollständig zu erschließen. Gesellschaftlich wie ökonomisch. Spätestens übermorgen übrigens. Am liebsten aber eigentlich schon heute. Denn es handelt sich dabei um eine Frage der schieren Notwendigkeit.“
Vom Gastarbeiter
zum Unternehmer
Auch Attila Öner, der stellvertretende Vorsitzende des IntUV, schilderte, dass die ehemaligen Gastarbeiter zu überregionalen Unternehmern geworden sind. Als Anliegen von IntUV erläuterte er, dass es dem Verband nicht um Integration geht, sondern um die Hilfe, die Vermittlung zwischen Unternehmern und Institutionen, um den Aufbau von Netzwerken. Und das egal, ob der Ratsuchende Ayse, Inge oder Stanislav heißt.
Öner erläuterte Projekte, die IntUV anstößt und mit Leben füllt, um den Mangel an Fachkräften und Auszubildenden einzudämmen und wünschte allen Gästen „viele bunte Ideen und Visionen bei und durch gute Gespräche.“
Vom zweiten Vornamen zu deutlichen Zahlen
Yunus Ulusoy verriet nicht nur, dass er ein Kommilitone des Vorsitzenden von IntUV, des Unternehmers Yildiray Cengiz, ist, sondern auch, dass er mit zweitem Vornamen Süleyman, der Prächtige, nach dem gleichnamigen Sultan, heißt. Die Geschichte des zweiten Namens ist eine typische Gastarbeitergeschichte, denn Ulusoys Vater arbeitete als Gastarbeiter in Deutschland. Als sich die Geburt seines Sohnes näherte, schrieb er seiner Frau einen Brief mit dem Namen, den er sich für das Kind wünschte. Nur leider kam Yunus schneller an als der Brief und wurde somit auf den Namen getauft, den ihm seine Mutter zudachte. Für seinen Vater ist er aber immer Süleyman geblieben und in seiner Heimatstadt Herne, wo er aufwuchs, auch viel eher bekannt denn als Yunus.
Er schilderte in seinem Vortrag die Entwicklung der ethnischen Ökonomie. „In den 70er Jahren wurden die ersten Geschäfte von Migranten gegründet, in denen meist landestypische Dinge, Reisen oder Übersetzungen angeboten wurden. Damals zahlten die Migranten noch Luftgeld, also Geld für nichts, außer für den Namen eines Deutschen, den dieser zur Verfügung stellte, damit das Geschäft rechtskräftig werden konnte. Denn den Ausländern war es nicht erlaubt, ein Geschäft zu gründen, sie brauchten einen Deutschen, der seinen Namen gegen das Luftgeld zur Verfügung stellte.“
Ulusoy gab Oberbürgermeister Baranowski recht, der geschildert hatte, dass die Migranten oftmals in die Selbstständigkeit gedrängt wurden, weil es sonst keine Arbeit für sie gab, als die Zechen nacheinander geschlossen wurden.
Die Zahlen die der Spezialist vorstellte, waren beeindruckend. So schilderte er, dass zwischen 1991 und 2010 das wirtschaftliche Wachstum bei Ausländern bei 149 % lag, bei Menschen mit Migrationshintergrund sogar bei gut 300 %.
Zwischen 2005 und 2010 sind rund 20 % mehr Menschen mit Mitgrationshintergrund selbstständig geworden als in den Jahren zuvor. Zum Vergleich machten sich 2,3 % der Deutschen im gleichen Zeitraum selbstständig.
In einem Ausblick prophezeite Ulusoy, dass die Migranten weiterhin zu Gründern werden, während die Gründungszahlen und die Zahlen der Selbstständigen bei den Deutschen nicht zuletzt durch die Überalterung zurückgehen werden.
„Es entsteht eine neue Kultur der Selbstständigkeit, die den deutschen Ordnungssinn mit den ausländischen Tugenden vermengt“, sinnierte Ulusoy.
Unternehmer schildern ihre Idee und Firma
In der Diskussionsrunde trafen der türkische Prokurist Hasan Sahin von der Ayyo GmbH, die Gelsenkirchener Eiscafé-Inhaberin Grazia Dell‘Aquila und die Koreanerin Shi-Joung Kim aufeinander, die ihre Unternehmensgeschichten schilderten.
So gehörte Grazia Dell‘Aquilla, als sie vor gut 20 Jahren mit ihrem Mann ihre erste Eisdiele am Bahnhof gründete, zur Italiener-Ära, wie Ulusoy es zuvor ausgedrückt hatte. Frau Dell‘Aquilla brachte es auf den Punkt mit den Worten: „Wir waren jung und machten uns keine Gedanken. Darum haben wir eine kleine Eisdiele ohne Sonne eröffnet mit sechs Tischen, aber ohne Terrasse.“ Nach zehn Jahren siedelte das Eiscafe Graziella an die Ebertstraße in Nachbarschaft des Hans-Sachs-Hauses um und das Paar eröffnete inzwischen eine Weinbar am Neumarkt als zweites Standbein, weil „man ja nicht weiß, wie lange es noch dauert mit dem Hans-Sachs-Haus und wie es dann weitergeht.“
Und obwohl es der sympathischen Italienerin zwischenzeitlich regelrecht die Sprache verschlug: „Mein Gott, ich kann kein Deutsch mehr!“, schaffte sie es zu erklären, was für sie die Selbstständigkeit bedeutet: „Es ist viel mehr, als nur Eis zu verkaufen. Selbstständig bedeutet selbst, aber auch ständig. Denn wir haben die Erfahrung gemacht, dass es drei Dinge gibt, die ganz wichtig sind: Sauberkeit, Freundlichkeit und Qualität.“
Von der Qualität konnten sich die Gäste beim späteren Imbiss selbst überzeugen. Und auch die Produkte der Firma Ayyo waren zu testen, denn Herr Sahin hatte gleich eine ganze Auswahl an Ayran-Varianten bereit gestellt.
Hasan Sahin erklärte, dass die Mentalität der türkischen Unternehmer eine ganz andere ist als die der deutschen: „Wichtig ist für uns die Idee. Der Deutsche rechnet hin und her, er erstellt Prognosen, lässt sich 80-seitige Analysen verfassen und kommt zum Schluss, dass er klein anfangen muss. Ein Türke sieht einen Laden, sagt: ‚Den nehme ich‘, und fängt an. Sie haben mehr Mut.“
So entstand auch die Idee zur Ayyo Gmbh: „Der Firmengründer hatte eine fixe Idee, er hat andere Leute wie mich überzeugt und mitgerissen und inzwischen sind wir nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa vertreten“, schilderte Sahin.
Er gab die Anregung: „Die Kinder sind heute multikulturell. Sie nehmen die Unterschiede gar nicht mehr wahr. Davon könnten sich Erwachsene eine Scheibe abschneiden.“
Shi-Joung Kim lebt seit 30 Jahren in Deutschland und lernte während ihres Studiums aufgrund von Rückenschmerzen die Gesundheitstherapieliegen kennen, die sie heute selbst vertreibt.
Autor:silke sobotta aus Gelsenkirchen |
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