Holocaust-Zeitzeugin Halina Birenbaum am Leibniz Gymnasium
„Leben ist Kraft“

Geduldig beantwortete Halina Birenbaum die Fragen der aufmerksamen und interessierten Schüler. Foto: Gerd Kaemper
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Vor 15 Jahren lernte Georg Troska-Schilling, damals Lehrer am Leibniz-Gymnasium, die Holocaust-Überlebende und Autorin Halina Birenbaum kennen und pflegt seitdem diese Freundschaft. Dieser Freundschaft ist es zu verdanken, dass die 89-jährige Zeitzeugin auch in diesem Jahr zu Gast an dem Buerschen Gymnasium war, um den Schülern ihre Kindheit und Jugend in der Nazi-Diktatur zu schildern.

Der Schulleiter des Leibniz-Gymnasiums, Konrad Fulst, begrüßte den Gast aus Israel mit den Worten: „Sie waren schon öfter hier zu Gast und wir sehen es nicht als Selbstverständlichkeit, dass sie die Anreise aus Israel hierher auf sich nehmen. Zumal sie uns heute erzählen aus einer ihrer Lebensphasen, die für uns eine Geschichtsphase ist, die weit zurück liegt für die heutige Generation. Umso wichtiger ist es aber, dass die Greueltaten von damals nicht in Vergessenheit geraten.“
Georg Troska-Schilling, dem der Schulleiter dafür dankte, dass er sich auch zwei Jahre nach dem Beginn seines Ruhestandes noch für seine ehemalige Schule engagiert, erklärte: „Es ist mir eine Herzensangelegenheit, dass das Wissen über den Holocaust weiter gegeben wird.“
Und schon legte Halina Birenbaum, eine Frau von vielleicht 155 Zentimeter Größe los und ließ ihren Erinnerungen freien Lauf. Die alte Dame ist in Polen geboren und aufgewachsen und zwei Jahre nach Kriegsende und dem Ende des Nazi-Regimes nach Israel ausgewandert. Wenn sie deutsch spricht, dann ist es das „Deutsch“, das sie als Insassin der Lager Majdanek, Auschwitz-Birkenau, Ravensbrück und Neustadt-Glewe sowie seit 1989 durch ihre Besuche in Deutschland und an hiesigen Schulen gelernt hat.
Wie sie berichtet, keimte der Wunsch ihre und die Geschichte ihrer Familie zu erzählen und gerade auch in Deutschland davon zu berichten bereits sehr früh. „Als ich in das Arbeitslager Ravensbrück transportiert wurde, habe ich schöne kleine Häuser und eine schöne Landschaft gesehen. Darum habe ich überlegt, dorthin zu gehen und den Familien zu erzählen, was die deutschen Männer mit uns gemacht haben.“
Denn Halina Birenbaum musste lernten, dass „Kinder im Krieg keine Kindheit haben“ und Deutsche „Soldaten sind, dei den Juden den Tod bringen.“ Sie war noch keine zehn Jahre alt, als Hitler-Deutschland in Polen einfiel und musste sechs Jahre lang jeden Tag aufs Neue um ihr Überleben kämpfen. „Meine Schule waren der Geruch von verbranntem Menschenfleisch und der allgegenwärtige Tod“, erinnert sich die Jüdin.
Wenn sie über das Hitler-Deutschland redet, dann schildert sie: „Hitler wollte eine neue Ordnung in Europa erschaffen, bei der ganz Europa zu Sklaven der Deutschen werden sollte. Das alles aber ohne Juden, die sollten bis zum letzten vernichtet werden.“
Kenntlich gemacht durch den Judenstern, war es den Juden verboten zu arbeiten, es sei denn für die deutschen Besatzer. Die Lebensmittel waren äußerst knapp und es wurde alles getauscht, was man entbehren konnte.
Als polnische Juden wurde Halina Birenbaums Familie, ihre Eltern und ihre beiden älteren Brüder ebenso wie die Großeltern und weitere Verwandte, 1940 in das Warschauer Ghetto verbannt: „Hier mussten die Juden selbst die Mauer um ihr Gefängnis bauen, während die jüdischen, polnischen und deutschen Polizisten sie dabei in Schach hielten.“
Ihre Zeit im Ghetto dauerte bis zum Mai 1943, kurz nach der Niederschlagung des jüdischen Aufstandes. In den dreieinhalb Jahren lebte die Familie wie alle anderen Juden auf engstem Raum. Doch für die Familie war das wichtigste, dass sie zusammen war. Denn es kursierten bereits die Gerüchte, dass Juden in den Wald getrieben wurden, wo sie Gruben ausheben mussten, in die sie sich hinein stellen mussten, um erschossen zu werden. Ein Zynismus, der seinesgleichen sucht. Und auch, dass bereits seit Ende 1939 die ersten Juden in Lkws vergast wurden, war in der jüdischen Bevölkerung bekannt.
Allen Gefahren zum Trotz schaffte es die Familie zusammen zu bleiben. Der Vater und die Brüder verrichteten kriegswichtige Arbeit und waren so zunächst vor „Abholungen“ geschützt. Doch das galt nicht für Halina und die anderen Kinder, wie etwa eine Cousine mit dem gleichen Vornamen. Also wurden die Kinder hinter Verschlägen versteckt und wagten es bei Hausdurchsuchungen nicht, sich zu rühren oder zu atmen, aus Angst vor der Entdeckung.
„Und immer hofften wir, dass Deutschland den Krieg verliert und die Russen bald einmarschieren würden“, erinnert sich die Jüdin. Doch es brauchte noch Zeit, bis sich diese Hoffnung erfüllte.
Stattdessen wurde das Ghetto ab dem Sommer 1942 mit Plakaten bestückt, auf dem die Juden darüber informiert wurden, dass sie zum Arbeiten in den Ostgebieten umgesiedelt werden würden. „Die jüdischen Polizisten waren besonders brutal, weil sie ihre Macht nutzten, um sich bei den deutschen Herrschern anzubiedern und so ihr eigenes Überleben zu sichern. Aber es marschierten auch Urkainer und Litauer in SS-Uniformen durch das Ghetto und trieben die Juden zusammen“, berichtet die 89-Jährige.
Pro Tag wurden nun 10 bis 15.000 Juden zu einem Umschlagplatz getrieben und wie Vieh in Zügen gefercht. Mehr als 100 Menschen werden in jeden der Waggons gejagt. Da ihr Vater und der Bruder noch immer für die Besatzer arbeiten, kann die Familie bleiben. Doch im Spätherbst 1942 spitzt sich die Lage weiter zu und die Familie muss zum Umschlagplatz. Dort wird der Vater von Mutter und Tochter getrennt, niedergeprügelt und abtransportiert.
„Ich habe ihn nie wieder gesehen. Nicht einmal ein Foto ist mir von ihm geblieben. Doch wir anderen hatten noch einmal Glück“, erzählt Halina Birenbaum, die von ihrer Mutter aufgefordert wurde, zu sagen, dass sie 17 Jahre alt sei, obwohl sie erst 13 war. „Die brauchen keine Kinder“, hatte ihre Mutter ihr erklärt und auch: „Der Zug bedeutet den Tod, darum steigen wir nicht ein. Jeder Mensch muss einmal sterben. Aber wir bleiben zusammen und irgendwie wird es gehen.“
Mutter und Tochter versteckten sich in einem Kanalloch, während der Bruder versuchte etwas für ihre Rettung zu erwirken. „10.000 Zloty pro Kopf wollte ein jüdischer Polizist dafür, dass er uns ins Ghetto zurück ließ. Doch am Ende schaffte es mein Bruder uns gegen einen Anzug meines Vaters und ein Kilogramm Reis zurück zu holen“, erzählt die alte Dame. Doch auch das war nur ein Aufschub, denn nach der Niederschlagung des Aufstandes wurde das Warschauer Ghetto in Schutt und Asche gelegt und alle, die noch darin lebten, abtransportiert.
Als auch sie, ihre Brüder und die Mutter schließlich einen Zug besteigen mussten, fanden sie nicht einmal genug Platz zum Stehen darin. Und irgendwie war die Familie am Ende dieser Reise froh, dass sie nicht in Treblinka angekommen waren, denn das Lager stand für den Tod. „Mein Vater, meine Großeltern und andere aus meiner Familie waren dorthin gekommen. Die Männer wurden Zwangsarbeiter, doch die Frauen und Kinder wurden sofort getötet“, schildert die alte Dame.
In Majdanek trennten sich die Wege der Familie, weil Männer und Frauen getrennt wurden. Es war der Moment, dass Halina Birenbaum ihre Brüder zum letzten Mal gesehen hat. Kurz darauf wurde sie bei einer weiteren Selektion auch von ihrer Mutter getrennt und ihr blieb nur noch eine lebende Verwandte.
800 Frauen waren in einer Baracke untergebracht, für 100 gab es Essensgeschirr und Suppe. Tägliche Zähl- und Arbeitsappelle sowie ständige Selektionen erweckten den Eindruck, dass es nirgendwo so schlimm sein kann wie in Majdanek. „Und dann kam eine Nacht, in der wir vor der Gaskammer stehen mussten. Doch das Gas war ausgegangen und wir durften weiter leben“, erinnert sich Halina Birenbaun, die kurz danach nach Auschwitz verfrachtet wurde.
Dort erlebte sie, wie im Herbst 1944 ungarische Juden ohne Pause in die Gaskammer gejagt wurden. Sie selbst war in der Kleidersortierung beschäftigt: „Das war eine gute Arbeit, denn man bekam Essen und saubere nicht läuseverseuchte Kleidung.“
Ende 1944 wurde die Gaskammer gesprengt und es kamen keine weiteren Züge mehr an in Auschwitz. Mitten im Winter überlebte Halina nackt im Freien eine weitere Selektion. Am Neujahrstag 1945 wird sie in den Arm geschossen, weil sie mit einer Freundin sprechen wollte. Die Kugel ging durch den Arm und drang in ihren Körper ein. Ein Arzt operierte sie im Männerlager, wo sie anschließend verblieb und ihre erste Liebe Abraham kennenlernte, der dort als Sanitäter arbeitete.
„Wir waren drei Wochen zusammen. Er gab mir seine Adresse, weil die Russen schon so nah waren und wir nach dem Krieg heiraten wollten. Als ich nach Ravensbrück transportiert wurde, hat Abraham ein kleines Paket mit Brot gepackt und über den Lagerzaun vom Männer- in den Frauenbereich geworfen und der Frau, die es aufhob gesagt, sie möge nach einer Halina suchen mit einer kaputten Hand. Sie hat mich wirklich gesucht und mir das Paket gegeben. Das war eine gute Tat von ihr, sie hätte es ja auch behalten können“, weiß Halina Birenbaum.
Im Mai 1945 wurde die Jüdin aus dem KZ Neustadt-Glewe befreit. Ende Mai war sie zurück in Warschau und ihre bis dahin von der Kugel, die einen Nerv getroffen hatte, taube Hand wurde wieder gesund. 1947 emigrierte sie nach Israel, weil es in Polen auch nach dem Ende der Nazi-Diktatur zu viele Pogrome gegen die Juden gab.

Schüler befragen die Zeitzeugin

In einer Fragerunde nach dem Vortrag konnten die Schüler Halina Birenbaum einige Fragen stellen. So interessierte sich eine Schülerin dafür, was aus Abraham, der ersten Liebe, geworden war?
„Ich habe die Adresse aufgesucht, die er mir gegeben hatte. Dort lebten zwei seiner Brüder, die auch von mir wussten, mir aber leider mitteilen musste, dass Abraham an den Folgen des Hungers im Alter von 24 Jahren verstorben war.“
Ein anderer Schüler fragte, wie die Überlebende die Befreiung erlebt hatte?
„Ich habe in diesen letzten Tagen während um uns herum die russischen Bomben einschlugen, im Lager gearbeitet. Als dann am 2. Mai plötzlich das Tor offen stand, dachten wir zuerst an einen makabren Trick der Deutschen. Erst einen Tag später verließen wir das KZ Neustadt-Glewe und mir war klar: Jetzt bin ich frei und kann machen was ich will. Doch die echte Freude brauchte noch, bis sie sich einstellte.“
Hat Ihnen Ihr Glaube geholfen bei Ihrem Überlebenskampf?
„Ich habe immer gehofft, dass die Deutschen bald den Krieg verlieren und die Russen einmarschieren. Beim Überleben geholfen haben mir die Menschen, aber nicht der Himmel.“
Wie konnten Sie diese Greuel verarbeiten?
„Indem ich darüber gesprochen habe. In Israel machte man uns Vorwürfe, weil wir nicht eher geflohen sind, warum wir uns nicht gewehrt und gekämpft haben. Darum habe ich angefangen die Wahrheit zu erzählen und warum ich keine Familie mehr habe. Man rief mich in die Schule meines Sohnes, der fünf Jahre nach meiner Befreiiung geboren wurde. Die Lehrerin beklagte, dass er oft unruhige wäre und ich erklärte ihr, dass sich meine Erlebnisse vermutlich auch noch auf meinen ungeborenen Sohn ausgewirkt hätten. Sie hörte mir zu und lud mich ein, in der Schule darüber zu erzählen. Denn in Israel befasste man sich erst durch den Prozeß von Eichmann, dem Mann, der für die Transporte nach Auschwitz verantwortlich war, mit dem Holocaust.“
Wie gehen Sie um mit heutigen antisemitischen Äußerungen?
„Ich habe Angst davor, dass wieder Menschen aufstehen und Sieg heil skandieren. Die polnische Regierung ist aber auch schrecklich, sie schürt den Antisemitismus und ich kann nur hoffen, dass die Menschen mit ihrem heutigen Wissen ein solches Geschehen nicht mehr zu lassen.“

Geduldig beantwortete Halina Birenbaum die Fragen der aufmerksamen und interessierten Schüler. Foto: Gerd Kaemper
Als die 89-jährige Halina Birenbaum erzählte, dass sie per Brief-, e-mail und facebook mit Menschen, die Interesse ihrer Geschichte haben, kommuniziert, erntete sie Lacher unter den Schülern. Am Ende ihres Vortrages wurde ihr aber mit großem Applaus gedankt für ihre Darstellung des Erlebten, die Bilder des Grauens herauf beschworen und die Schüler tief beeindruckten. Foto: Gerd Kaemper
Autor:

silke sobotta aus Gelsenkirchen

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