Trauriger Spitzenreiter bei der Armutsquote
In Gelsenkirchen droht jedem zweiten Kind die Armut
GELSENKIRCHEN. Das Risiko der Kinder-Armut ist in Gelsenkirchen deutlich höher als in allen anderen deutschen Städten und beträgt mit 42 Prozent mehr als das Doppelte des Bundesdurchschnitts von 20 Prozent. In Deutschland droht jedem 5. Kind die Armut, in Gelsenkirchen fast jedem zweiten Kind. Damit ist die Ruhrgebietsstadt mit Abstand trauriger Spitzenreiter in Deutschland.
Ein spürbarer Wohlstandsverlust durch die inflationären Preissteigerungen bei der Energie- und Lebensmittelversorgung sowie durch die Folgen von Corona und des Ukraine-Krieges mit den Aufrüstungskosten zu Lasten des Sozialhaushaltes ist bereits zusätzlich eingetreten. Die seit 20 Jahren anhaltende soziale Schieflage zwischen Arm und Reich wird sich deshalb nochmals dramatisch verschärfen und die Armutsquote für die Menschen ganz unten trotz „Entlastungspaket“ noch erhöhen. Dem Bundeshaushalt fehlt eine soziale Komponente und der Landespolitik eine soziale Prioritätensetzung.
Die Versprechungen der rot-grün-gelben Ampelkoalition und sogar der oppositionellen CDU, in dieser Wahlperiode, nach Jahrzehnten der sozialen Spaltung, endlich für einen gerechten sozialen Ausgleich zu sorgen, bleiben deshalb in den gegenwärtigen Krisenzeiten wohl Makulatur, trotz befristeter Entlastungspakete für Bedürftige. Finanzminister Lindner (FDP) sprach vor 3 Tagen in der BILD-Zeitung bereits vom bevorstehenden „Wohlstandsverlust für alle“ und stellte nur befristete Entlastungen für Bedürftige und die „breite Mitte“ in Aussicht. Im Sozialhaushalt 2022 hat er 7 Mrd. € im Bereich Arbeit und Soziales gekürzt. Die sozialen Kriegs- und Krisenfolgen werden wohl hauptsächlich die sozial Schwächsten zu spüren bekommen, so dass trotz temporärer Entlastungspakete oder Einmalzahlungen in nicht ausreichender Höhe die weiter steigende Armutsquote nicht abgesenkt werden kann.
Wachsende Armuts-Stadtteile: Armut als „Normalität“
In Gelsenkirchen sind nach einem Bericht des Armutsforschers Prof. Christoph Butterwegge von der Kinderarmut besonders betroffen die Quartiere Neustadt, der westliche Teil von Bulmke-Hüllen, Altstadt, Schalke-Nord, Schalke-Ost, Ückendorf-Nord und Rotthausen-West mit Sozialgeldquoten von wenigstens 54 bis zu 62 Prozent, wo die Kinder auch geringe Teilhabe-Chancen haben. Hier ist Armut sozusagen die „Normalität“. Die Folgen machen sich schon bemerkbar.
Wie sich Armut bei Betroffenen auswirkt
Die WAZ-Lokalredaktion Gelsenkirchen hat sich in einem Dossier des Themas der Kinderarmut in der Stadt schwerpunktmäßig angenommen: In Reportagen und Artikeln richtet sie den Blick auf die Tausenden Kinder und Jugendlichen in Gelsenkirchen, die in relativer Armut leben: „Beleuchten, was Armut in unserer reichen Gesellschaft bedeutet, fragen nach, wie Kinder darüber denken. Wir sprechen mit Lehrern darüber wie sich Armut in der Schule auswirkt und zeigt, begleiten eine Familie, die jeden Euro zweimal umdrehen muss, weil das Geld trotz Arbeit nicht reicht. Wir fragen nach, wie sich Armut auf die Psyche und Gesundheit von Kindern auswirkt.“
Sozialer Abstieg in Armutsvierteln mit Gesundheitsfolgen
Gelsenkirchener Kinderärzte, die den sozialen Abstieg hautnah mitbekommen, berichten von gesundheitlichen Folgen: Karies, Übergewicht, Verzögerungen in der Entwicklung. Kinder aus armen Familien leiden vielfach. Medizinische Maßnahmen reichen nach ihrer Auffassung nicht, aus, sondern es müssen Stolz und Selbstwertgefühle ermöglicht werden durch Wertschätzung. Sonst geraten die Jugendlichen ins Abseits.
Kriminalitätsprobleme und hohe Ausländerquote
Am 23. März berichtete die WAZ von zunehmender Kriminalität durch aggressive Jugendbanden in Gelsenkirchen – einer Stadt mit einer Ausländerquote von fast 20% (gegenüber 12,8% im Bundesdurchschnitt). In einzelnen Straßenzügen z. B. in den Stadtteilen Bismarck, Neustadt, Bulmke-Hülle oder Hassel beträgt die Ausländerquote (nach älteren Statistiken) zwischen 55% und 65%%. Doch damit nicht genug: Gelsenkirchen ist nicht nur die Hochburg der Kinderarmut und der AfD-Wähler in Westdeutschland, sondern gilt obendrein auch als Hochburg der Clan-Kriminalität in NRW (gleich nach Essen und Recklinghausen und noch vor Bochum und Duisburg), wie der Innenminister aktuell nach einer Razzia bekanntgab.
Soziale Spaltung stärkt Rechtspopulisten bei bevorstehender Landtagswahl
Dieser soziale Sprengstoff in Gelsenkirchen könnte bei der Landtagswahl wiederum den Rechtspopulisten der AfD in Gelsenkirchen zu Gute kommen, die bei der letzten Landtagswahl in Gelsenkirchen über 14% bis 15% der Stimmen erhielten, bei den zurückliegenden Bundestagswahlen zwischen 14% und 17%, in besonders betroffenen Stadtteilen sogar fast 19 % - so viel wie in keinem anderen Wahlkreis in Westdeutschland. Fast 15.000 Menschen haben in Gelsenkirchen die AfD gewählt. Welche Konsequenzen ziehen die demokratischen Parteien daraus vor Ort und im Land im Landtagswahljahr?
Armutsproblematik 20 Jahre lang politisch vernachlässigt
Derzeit stehen die Chancen zu Verbesserungen für die von Armut Betroffenen noch schlechter als in den zurückliegenden 20 Jahren unter 5 verschiedenen Regierungskoalitionen, in denen das Armutsproblem politisch nicht angepackt, geschweige beseitigt wurde, sondern die Armutsquote immer weiter gestiegen ist bis auf den heutigen Höchststand. Stattdessen nun die Ausrede mit den Steigerungen der Militärausgaben und unvermeidbaren Kürzungen im Sozialhaushalt – sind das schon die Vorboten auf Hochrüstungs- und Kriegshaushalte anstelle der Armutsbekämpfung?
„Zeitenwende“ bedeutet Kürzung von Sozialausgaben
Einerseits kündigt der Kanzler in seiner "Zeitenwende"-Rede ein Rüstungssondervermögen von 100 Milliarden Euro und einen Wehretat von mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts an. Andererseits sinkt der Sozialhaushalt im Haushaltsplan 2022 um fünf Mrd. Euro (minus drei Prozent) gegenüber 2021. Und das ist keine Einjahres-Fliege, sondern ist auf Dauer geplant. Allein in der Rentenversicherung werden die in 2018 beschlossenen Sonderzahlungen über jeweils 500 Mio. Euro von 2022 bis 2025 gestrichen. Zusammen mit anderen Kürzungsmaßnahmen im Rentenhaushalt spart der Bund bis 2026 über sechs Mrd. Euro ein.
Auch die Armutsrentner sind betroffen
Die angekündigte nachträgliche Verbesserung bei den Erwerbsminderungsrenten für BestandsrentnerInnen sollen allein von den Beitragszahlern der Deutschen Rentenversicherung (DRV) getragen werden. Die letzte Tat: RentnerInnen bekommen die Energiekostenpauschale von 300 Euro nicht als Unterstützung. Ein treffendes Bild für die "Soziale Kälte" der Bundesregierung. Bereits im Koalitionsvertrag hatten sich die Ampelparteien geeinigt, den sogenannten Nachholfaktor wieder in Kraft zu setzen – ebenfalls ein milliardenschweres Kürzungsvorhaben.
Regierungs- und Wahlprogramme als Lippenbekenntnisse?
Liest man hingegen die Regierungs- und Wahlprogramme der Ampelparteien wie auch der CDU-Opposition mit dem Multimillionär Merz und dem früheren Wirtschaftslobbyisten Hendrik Wüst an der Spitze, dann hat die Beseitigung der sozialen Ungleichheit und Benachteiligung eine hohe Priorität, zumindest in Wahlkampfzeiten. Derweil ist die Armutsquote insgesamt im reichen Deutschland - dem Land der Suppenküchen und Tafeln zur Armenspeisung mit immer längeren Schlangen – auf das Rekordniveau von über 16% gestiegen, in 5 Bundesländern sogar über 20%. Über 13 Millionen Menschen in Deutschland leben in Armut, insbesondere Erwerbslose (52%), Alleinerziehende (41%), Kinderreiche (31%) sowie Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen (31%).
Zu wenig Arbeiter und Angestellte in den Parteien und Parlamenten
In den Parteien, Parlamenten und Regierungen entscheiden lauter (bestens versorgte) Nichtbetroffene über Betroffene in den Armutsstädten und –vierteln, deren Lebenswelt ihnen fern ist. Vielleicht müssen wieder mehr Arbeiter und Angestellte in Parteien präsent sein, denn die Akademiker (auch bei den Sozialdemokraten) überwiegen in den Parteivorständen, als Abgeordnete und als Kandidaten z.B. bei der bevorstehenden Landtagswahl in NRW. Von der Ampel in Berlin bis zur Landesregierung in NRW sind nur wenige Maßnahmen in den Koalitionsverträgen geeignet, Einkommensarmut wirkungsvoll zu bekämpfen. Eher schützen sich die vermögenden Abgeordneten und Regierungsbeamten selber vor erhöhten Vermögenssteuern.
Unzureichende Antworten auf die materiellen und sozialen Fragen
Ob schwarz-gelb oder rot-grün-gelb – auf die harten materiellen und sozialen Fragen, wie steigende Mieten, Armut im Alter, Kinderarmut, niedrige Löhne und prekäre Beschäftigung hat die Politik nur unzureichende Antworten und andere Prioritätensetzungen – zumindest solange die kleine neoliberale FDP in Land und Bund als sozialer Bremser auftritt zugunsten ihrer wohlhabenden Klientel. Aber auch die Langzeitkanzlerin Angela Merkel hatte es in 16 Jahren auch mit der SPD an ihrer Seite nicht vermocht, ihrer eigenen Aussage in der vorletzten Regierungserklärung wenigstens kurz vor ihrem Abgang noch Taten folgen zu lassen: „Kinderarmut ist eine Schande für Deutschland“ – als ob sie für diesen Zustand dafür nach 16 Jahren keine Verantwortung trägt. Ein Ende der „sozialen Kälte“ in Deutschland ist nicht in Sicht, erst recht nicht in Krisen- und Kriegszeiten, wo es noch anderes Elend zu beseitigen gilt. Nach dem 15. Mai werden auch in NRW viele soziale Versprechungen in der Versenkung verschwinden – oder?
Wilhelm Neurohr, 6. April 2022
Autor:Wilhelm Neurohr aus Haltern | |
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